Die deutsche Regisseurin Jessica Glause ist auf die Inszenierung von Romanadaptionen spezialisiert. Sie habe sogar schon Sachbücher auf die Bühne gebracht, erzählt die studierte Kulturwissenschaftlerin. So habe sie keine Scheu, bei der 480 Seiten umfassenden, autobiografischen Erzählung von Meriel Schindler, den Rotstift anzusetzen und die ineinander verwobenen Erzählstränge radikal zu kürzen.
Wo sind die Dialoge?
Als die in London lebende Buchautorin Meriel Schindler die Tiroler Theaterfassung ihrer Familiengeschichte zum ersten Mal zu Gesicht bekam, fragte sie sofort aus dem Bauch heraus: „Wo sind denn die Dialoge?“
Sendungshinweis:
"Tirol heute, 7.3.2024,
19.00 Uhr, ORF2
Die zweistündigen Theaterfassung besteht aus Erzähltexten und kommt ohne direkte Rede aus. Meriel Schindler schlug dem Theaterteam spontan vor, die Dialoge selbst zu schreiben, weil die Autorin die meisten Personen natürlich gut gekannt hat und die Stimmen ihrer Verwandten teilweise noch im Ohr hat.
Doch Regisseurin Jessica Glause geht einen anderen Weg. Sie ist auf die Inszenierung von zeitgenössischen Texten spezialisiert. „Der Roman enthält sehr viele historische Fakten, doch als Theater haben wir eine andere Aufgabe. Wir machen Kunst“, sagt die Regisseurin. Die Texte sollen teilweise collageartig präsentiert werden. Dabei ist es ihr wichtig, dass die Schauspieler und Schauspielerinnen den historischen Hintergrund der Figuren gut kennen und sich in die Personen hineinfühlen können. Glause bietet dem Team umfassende Hintergrundinformationen und lässt viel Zeit zum Diskutieren.
Sieben mal Meriel Schindler auf der Bühne
Alle sieben Mitglieder des Ensembles werden die Geschichte von Meriel Schindler auf der Bühne erzählen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in London. Als ihr Ehemann Jeremy Taylor zum ersten Mal von den vielen Meriels auf der Bühne erfuhr, meinte er mit britischem Humor, er könne kaum eine Meriel ertragen.
„Ich muss Meriel betrügen“
Ein Theaterstück sei kein Buch, bringt es Regisseurin Jessica Glause auf den Punkt. Sie betrachte die autobiografische Erzählung nicht als „heilig“, obwohl es eine sehr persönliche Geschichte sei. Als Regisseurin müsse sie sich diese Geschichte aneignen und ein neues Werk auf die Bühne bringen.
„Ich muss Meriel betrügen, damit ein eigenständiger Theaterabend entsteht“ formuliert es Glause drastisch. Das habe natürlich nichts mit dem Hintergehen der Autorin zu tun, sondern mit dem Treffen von klaren Entscheidungen für die Produktion. „Theater muss klug gemacht sein, es kann neue Informationen vermitteln, aber vor allem sollte es die Herzen berühren. Das Publikum darf nicht das Gefühl haben, im Geschichtsunterricht zu sitzen.“ Man müsse sich auch nicht vorbereiten, um das Stück zu verstehen, beruhigt die Regisseurin.
Welche Geschichte kommt auf die Bühne?
In ihrem 2022 erschienenen Buch holt Meriel Schindler weit aus und erzählt, wie ihre jüdischen Urgroßeltern Samuel und Sofie Schindler am Ende des 19. Jahrhunderts aus Böhmen nach Innsbruck gekommen sind. Damals lebten nur wenige Juden in Tirol. Als Schnapsbrenner, Likör- und Marmeladefabrikanten bauten die Schindlers ein kleines Imperium auf.
Sie legten großen Wert darauf, sich in Tirol zu assimilieren, zeigten sich in Tracht und besuchten den jüdischen Gebetsraum eher selten. Hugo Schindler war ein begeisterter Alpinist und kämpfte im Ersten Weltkrieg für den Kaiser.
Szenetreff in Zwischenkriegszeit
1922 eröffnete Meriels Großvater, Hugo Schindler das Café Schindler auf der Maria Theresien Straße im Zentrum von Innsbruck – mehr dazu in Cafe Schindler: Zeuge der Geschichte. In der Zwischenkriegszeit war es ein Szenetreff mit jazziger Livemusik und Tanz in eleganten Salons. Es gab eigene Räume für Bridge und Billard. Bis heute erzählt man sich in Innsbruck Geschichten aus dem legendären Café Schindler, vom ersten geheimen Kuss der Großeltern und rauschenden Festen.
Die Nationalsozialisten setzten der Erfolgsgeschichte der Familie Schindler ein brutales Ende. 1938 wurden die jüdischen Unternehmer enteignet, ihre Firmen wurden arisiert. In die elegante Villa Schindler am Rennweg zog der NS-Gauleiter Franz Hofer mit seiner Familie ein.
Einigen Familienmitgliedern gelang die Flucht nach London, andere wurden in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Ausschwitz ermordet. Der überzeugte Nationalsozialist Franz Hiebl bekam das Café Schindler auf der Maria Theresien Straße. Gauleiter Franz Hofer schanzte es seinem Freund zu. Die NS-Elite ging dort ein und aus und statt internationaler Jazzmusik erklang heimische Volksmusik.
Aus dem „Café Schindler“ wurde das „Café Franz Hiebl“
Die georgische Bühnenbildnerin Mai Gogishvili greift die Geschichte auf, ohne sie zu illustrieren. Auf der Bühne will sie keinesfalls ein klassisches Kaffeehaus mit Thonet-Stühlen und Marmortischchen aus den 1920er Jahren einrichten.
Die Künstlerin arbeitet bevorzugt mit Lichtelementen. So soll ein eleganter Kristallluster das Kaffeehaus symbolisieren, eine einsame Glühbirne erzählt von der schweren Zeit der jüdischen Familie in der NS-Zeit. Mit den, in unterschiedlichen Farben leuchtenden Buchstaben lässt sich der Name des Cafés auf der Bühne umschreiben.
Die Autorin persönlich treffen
Nach der ersten intensiven Textarbeit trifft das Team zum ersten Mal die Autorin auf der Probebühne im Tiroler Landestheater. Die Nervosität ist spürbar. Meriel Schindler arbeitet als Rechtsanwältin in London. Für ihr Buch hat sie umfassend recherchiert. Um Fragen des Ensembles zu beantworten, ist die viel Beschäftigte extra aus London angereist. Mit dem Loslassen ihrer Geschichte habe sie kein Problem, sie sei neugierig, wolle aber keineswegs Einfluss nehmen, sagt Schindler.
Die eigene Geschichte loslassen
Meriel Schindler spricht offen über ihre eigene Familie, über die komplizierte Beziehung zu ihrem Vater Kurt Schindler, der einen lockeren Umgang mit der Wahrheit hatte und auch über Familienstreitereien bis zum Suizid ihres Großonkels Otto im Jahr 1934. Die Autorin und Juristin möchte ein möglichst authentisches Bild zeichnen.
Die Regisseurin Jessica Glause lädt zusätzlich den Kurator Hannes Sulzenbacher vom Wiener Jüdischen Museum ein, sich eine Probe anzusehen. Der Expertenblick sei ihr wichtig, um nicht in eine Klischeefalle zu tappen. „Warum geht es bei jüdischen Erzählungen häufig um das Thema Geld?“ fragt Glause und betont, es komme darauf an, wie man etwas erzähle.
Eigene Bühnenmusik entsteht
Die steirische Musikerin Eva Jantschitsch, auch bekannt unter dem Pseudonym „Gustav“ wird die Bühnenmusik für die Produktion komponieren. Ihren ersten Besuch in Innsbruck fand sie so inspirierend, dass sie gleich auf der Rückfahrt mit dem Zug nach Wien einen Song geschrieben habe, erzählt die Musikerin.
Botschaft gegen Antisemitismus
In dieser Geschichte gehe es nicht nur um ihre eigene jüdische Familie, die unter Antisemitismus gelitten hat. Ihr Großvater Hugo Schindler wurde in der Progromnacht im November 1938 in seiner Innsbrucker Wohnung in der Andreas Hofer Straße halb tot geschlagen. Ihre Urgroßmutter Sofie Schindler wurde in Theresienstadt ermordet.
Am 16. April um 19.00 führt Günter Lieder, der Präsident der IKG auf den Spuren der Familie Schindler durch Innsbruck.
Meriel Schindler stellt die Produktion in einen größeren politischen Zusammenhang. In einem Brief an das Theaterteam schreibt sie: "Der Krieg zwischen Israel und dem Gazastreifen macht mich auf so vielen Ebenen traurig. Ich fürchte um die vielen unschuldigen Menschen in Gaza, die als Flüchtlinge in den Süden gezwungen werden und die von den Israelis bombardiert werden. Ich fürchte aber auch um die gewöhnlichen Juden auf der ganzen Welt, die mit einer dramatischen Zunahme des Antisemitismus konfrontiert sind, der in der Tat, wie ein Schriftsteller es ausgedrückt hat, wie „Hefe" in der Dunkelheit existiert und zu verschiedenen Zeiten und in verschieden Formen in unserer Geschichte ausbricht.“
Am Samstag, 6. April wird das Theaterstück „Café Schindler“ am Tiroler Landestheater uraufgeführt. Bei der öffentlichen Premierenfeier wird anschließend Zac Schindler, der Sohn von Meriel Saxophon spielen. Sein Urgroßvater Hugo Schindler hat Jazzmusik geliebt.
Das Theaterteam arbeitet auch mit der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) und dem Stadtarchiv/Stadtmuseum zusammen. Führungen zu den historischen Schauplätzen in Innsbruck werden angeboten.