Am 20. Jänner 1942 trafen sich mehrere hochrangige Vertreter der NSDAP, der SS und der Ministerien des Deutschen Reiches in einer Villa am Großen Wannsee bei Berlin. Hier planten sie die Deportation und die Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden in Europa. Die Besprechung dauerte gerade einmal 90 Minuten. Unter der Bezeichnung „Wannsee-Konferenz“ ging sie als wesentliches Ereignis auf dem Weg der Radikalisierung von der Verdrängung hin zur Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden in die Geschichte ein.
Heute befindet sich in dem Gebäude eine Gedenk- und Bildungsstätte. Das Haus der Wannsee-Konferenz gilt als renommierter und idealer Lernort für die Beschäftigung mit der NS-Zeit und ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Bei dem neuen Lehrgang „Nationalsozialismus, Antisemitismus und Holocaust – Geschichte und Aktualität“ arbeiten PHT, Erinnern.at und die Gedenkstätte in Zukunft zusammen.
Premiere für Kooperation mit Hochschule
Dabei handelt es sich um eine europaweit einzigartige Kooperation, wie die Projektbeteiligten am Mittwoch bei der Vertragsunterzeichnung in Innsbruck betonten. „Für uns ist es die erste Form dieser Zusammenarbeit mit einer Pädagogischen Hochschule“, sagt Deborah Hartmann. Die gebürtige Österreicherin leitet die Gedenkstätte zur Wannsee-Konferenz seit 2020. Das Besondere sei, dass man mit Studierenden und Lehrenden zusammenarbeiten könne. Dieser Austausch helfe ihrer Einrichtung immens, sich weiterentwickeln zu können.
Der Lehrgang an der PHT richtet sich im ersten Jahr an Lehrerinnen und Lehrer der Mittelschulen, Berufsschulen und Polytechnischen Schulen. Man wolle dabei Menschen aus ganz Tirol erreichen, meinte der Historiker und Dozent Christian Mathies (Erinnern.at). „Aus der regionalen Perspektive heraus wollen wir die Themen vom Kleinen zum Großen aufarbeiten“, so Mathies.
Vom Seminarraum zu außerschulischen Lernorten
Konkret stehen Themen wie jüdisches Leben in Tirol, Terror und Verfolgung, Widerstand und Erinnerungskultur im Mittelpunkt. Die Expertinnen und Experten der Vermittlungsplattform Erinnern.at der Österreichischen Agentur für Bildung und Internationalisierung (OeAD) stellen innovative Lernmaterialien bereit und informieren praxisbezogen über historisches Grundwissen. Ein zentraler Baustein dafür sei die Onlineplattform „Digitale Erinnerungslandschaft“ – mehr dazu in DERLA: Erinnern an den Nationalsozialismus.
Gleichzeitig ist dem Organisationsteam unter der Leitung von Historiker Horst Schreiber der Aspekt des außerschulischen Lernens wichtig. „Das hat für die Vermittlung der regionalen Geschichte einen großen Mehrwert, dass man sich ansieht, welche Möglichkeiten es für außerschulische Lernorte gibt“, meinte Mathies. Zum Beispiel sollen die Teilnehmenden eigene Lernerfahrungen bei einer Besichtigung der Gedenkstätte Mauthausen in Oberösterreich machen.
Darüber hinaus gilt eine dreitägige Exkursion nach Berlin als Höhepunkt des Lehrgangs. Dort sollen sich die Lehrpersonen – unter anderem im Haus der Wannsee-Konferenz selbst – mit verschiedenen Fragen der Zeitgeschichte und der Erinnerungskultur auseinandersetzen. „Was bedeutet es, über Erinnerungskulturen zu sprechen, wie werden antisemitische Wissensbestände reproduziert, wie sprechen wir über das Thema, und was bedeuten jüdische Identitäten heute?“, gibt Hartmann einen Einblick in die Vermittlungsarbeit ihrer Institution.
Antisemitismus damals und heute aufzeigen
Wichtig sei beim Besuch in der Gedenkstätte, auch Akteurinnen und Akteure der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit kennenzulernen, mit deren Ansätzen zu arbeiten und darüber zu sprechen. So könne man eine Verbindung zur historisch-politischen Bildung herstellen. Im Haus der Wannsee-Konferenz liegt der Fokus zwar auf der Schoah, das heißt der Vernichtung der Jüdinnen und Juden in Europa. Dabei sei man aber stets bemüht, das Thema mit aktuellen Formen von Antisemitismus bzw. Judenhass zu verknüpfen.
Insgesamt ist der Bezug zur Gegenwart ein essenzieller Bestandteil des Lehrgangs. Wie die Bezeichnung verdeutlicht, gehe es sowohl um die Geschichte als auch um die Aktualität von Nationalsozialismus, Antisemitismus und Holocaust. Trotz der immer größer werdenden Distanz zum Zweiten Weltkrieg und zu den unmittelbaren Folgen der Zeit nach 1945 brauche es nach wie vor eine Beschäftigung damit, sagt Historiker Mathies.
„Verstehen, wie zerbrechlich unsere Demokratie ist“
„Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik zeigt uns einfach, wie zerbrechlich unsere Demokratie ist. Und wenn wir in einer Demokratie leben wollen, die auf Vielfalt beruht, dann müssen wir uns einfach dieser Thematik stellen, anders geht das gar nicht“, ist Mathies überzeugt. Die NS-Zeit wirke sich bis in die Gegenwart aus und habe mit uns und unserer Gesellschaft „wahnsinnig viel zu tun“.
Der Lehrgang an der Pädagogischen Hochschule Tirol startet im Herbst 2023 und dauert zwei Semester. Derzeit sind noch wenige Restplätze verfügbar. Der Kooperationsvertrag zwischen PHT, Erinnern.at und dem Haus der Wannsee-Konferenz umfasst fünf Jahre. Nächstes Jahr soll sich der Kurs vorwiegend an Volksschullehrerinnen und -lehrer richten.