Natasa Marosevac Bildungsaktivistin Bildungsdirektion
ORF
ORF
Leute

Nataša Maroševac: „Bildung ist Geschenk“

Nataša Maroševac ist eine Bildungsaktivistin und setzt sich seit über 30 Jahren für die Begegnung verschiedener Kulturen in Tirol ein. Die Bosnierin flüchtete 1992 nach Tirol. Seitdem engagiert sie sich ehrenamtlich in außerschulischen Projekten. Auch in ihrem Job in der MigrantInnenberatung der Bildungsdirektion baut sie Brücken.

Es ist die letzte Schulwoche des Jahres. Obwohl eigentlich kein regulärer Unterricht mehr stattfindet, organisiert Nataša Maroševac eine Gruppe des Farsi-Dari-Kurses. Mehrere Kinder mit afghanischen oder iranischen Wurzeln und deren Lehrerin kommen in die Volksschule Schwaz, um zu zeigen, wie der Unterricht abläuft. Zusätzlich zu Deutsch lernen sie hier die Sprache ihrer Eltern bzw. ihre Erstsprache, spielerisch, kreativ und mit viel Begeisterung.

Angebot seit 50 Jahren in Tirol

Seit 50 Jahren gibt es das Angebot dafür in Tirol. Und seit 30 Jahren ist es ein fixer Bestandteil des Regelschulwesens. Das bedeutet, dass Kinder als Teil einer unverbindlichen Übung oder als Freigegenstand ihre Erstsprache lernen können – mehr dazu in 50 Jahre muttersprachlicher Unterricht.

Diese Art von Unterricht ist nicht selbstverständlich. Es ist ein Herzensprojekt von Nataša Maroševac, sagt sie: „Bildung ist ein Geschenk und das wird zunehmend bewusster allen jenen, die durch ihre Fluchtwege die Möglichkeit nicht hatten, weil sozusagen diese Unterbrechungen passiert sind.“ Gerade was den Spracherwerb angeht, hätten Bildung und die Schule eine zentrale Rolle.

Journalismus in Sarajevo, Bürgerkrieg in Bosnien

Was Flucht bedeutet, weiß Maroševac genau. 1967 wird sie in Brčko im Norden von Bosnien-Herzegowina geboren. Nach der Schule studiert sie Journalismus in Sarajevo. Als dort im Frühjahr 1992 der Krieg ausbricht, arbeitet sie gerade als Reporterin und Moderatorin beim Landesfernsehsender. Sie merkt schnell, dass sie ihren Job nicht mehr ausüben kann und entscheidet, nach Tirol zu flüchten. Von früheren Austauschprogrammen mit Pfadfindern hat sie hierzulande noch einige Bekanntschaften.

Natasa Marosevac Bildungsaktivistin Bildungsdirektion
ORF
Ihre ersten Schritte und eine überraschende Begegnung machte Nataša Maroševac in der Halle des Innsbrucker Hauptbahnhofs

Im Alter von 25 Jahren kommt sie schließlich im Juni 1992 am Innsbrucker Hauptbahnhof an. „Ich bin, glaube ich, um vier Uhr in der Früh gekommen, es war menschenleer“, erinnert sie sich. Allerdings habe es eine überraschende Begegnung gegeben. „In einem Bereich des Hauptbahnhofs war so ein Standl mit der Aufschrift ‚Bosna‘. Und weil ich damals nicht Deutsch konnte, dachte ich ‚Wow, das sind die Menschen, die eben Flüchtlingen aus Bosnien helfen wollen und deswegen hier einen Infostand aufgebaut haben‘.“

„Bosna“-Schild war kein Willkommensgruß

Dass es sich dabei um einen Würstelstand und nicht um einen Infostand für bosnische Geflüchtete handelt, wurde ihr erst später klar. So beginnt ihre Ankunft in Tirol mit einer besonderen Anekdote. „Man soll und darf auch in den schwierigen Situationen Humor bewahren und auch Erinnerungen nicht nur in verkrampften und aussichtslosen Situationen sehen oder leben“, meint sie. Insofern sei die Bahnhofshalle sehr prägend für sie gewesen.

Danach geht es für sie weiter nach Völs. Im Pfadfinderheim trifft sie auf offene Türen und frühere Bekanntschaften aus internationalen Projekten. Die Menschen nehmen sie sofort auf. So darf sie das erste Monat im Pfadfinderheim leben, bevor sie in eine WG zieht. Trotzdem ist der Anfang im neuen Leben nicht einfach. Es gibt viele Fragezeichen, vor allem was das eigene Heimatland betrifft. „Man wusste nicht, wie lange Bosnien-Herzegowina als Staatsgebilde überhaupt existiert und daher waren die Pässe nur auf ein Jahr ausgestellt“, sagt Maroševac.

Das Miteinander besser gestalten

Aus diesem Grund muss sie laufend um neue Aufenthaltsgenehmigungen ansuchen. „Ich glaube ich habe fast zehn Pässe immer gehabt“, lacht sie. Tatsächlich sei es dabei nicht einfach gewesen, wirklich Fuß zu fassen. Eine Arbeitserlaubnis war nicht so einfach zu bekommen. Als Geflüchtete darf sie nicht arbeiten. Deshalb basiert ihr Dasein zunächst auf ehrenamtlicher Arbeit, zum Beispiel engagiert sie sich in Projekten mit der Caritas, den Pfadfindern oder anderen Initiativen und Gruppierungen von Reutte über Innsbruck bis Kufstein. Ihr großes Ziel dabei ist, das Leben im Miteinander besser zu gestalten.

Natasa Marosevac Bildungsaktivistin Bildungsdirektion Reisepässe Bosnien-Herzegowina
ORF
In den ersten Jahren ihres Aufenthaltes sammelten sich für Nataša Maroševac laufend neue Reisepässe an

Es fällt ihr keineswegs leicht, über alles zu sprechen. Bei den verschiedenen Projekten lernt sie im Laufe der Zeit zahlreiche Menschen kennen. Es sind Erfahrungen, die allen Beteiligten in Erinnerung bleiben. Die vielen Begegnungen und die Menschen sind ihr eng ans Herz gewachsen. 1994 beginnt sie beim Landesschulrat, der heutigen Bildungsdirektion, in der Beratungsstelle für Migrantinnen und Migranten. Dort ist sie nach wie vor tätig.

Hin zu einer „Pädagogik der Vielfalt“

Nataša Maroševac zeigt sich vor allem dankbar und wertschätzend denen gegenüber, die ihr und den vielen anderen Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien damals ein Zuhause gegeben haben. Nachdem sie geflüchtet war, will sie ihren Beitrag leisten. „Und aus Überzeugung heraus durfte ich in über einhundert Projekten sowohl beruflich als auch ehrenamtlich viel mitgestalten.“

Bildung und Migration sind für sie immer eine „Gratwanderung“, meint sie. Je nach kulturellem oder sprachlichem Kreis, aus dem die Kinder kommen, gibt es unterschiedliche Herausforderungen. „Ob das so wie vor 60 oder mehr Jahren Flüchtlinge aus Ungarn, später aus Bosnien, Kosovo, Tschetschenien, Afghanistan und Syrien oder jetzt Vertriebene aus der Ukraine sind, bleibt es eine Gratwanderung.“ Die Systeme von einer früheren „Ausländerpädagogik“ bis zu einer „Pädagogik der Vielfalt“ mit Inklusion und Integration müssten stets aktuell bleiben. „Und das mit zu unterstützen war und ist mir eine Ehre.“

Natasa Marosevac Bildungsaktivistin Bildungsdirektion Reisepässe Bosnien-Herzegowina Pfadfinder Völs
ORF
Gemeinsam mit Wegbegleiterinnen und Freunden der Völser Pfadfinder schaut Nataša Maroševac (Mitte) alte Fotos durch

„Tirol isch lei oans, aber auch meins“

Gerade der muttersprachliche Unterricht gilt für sie als großer Erfolg des Tiroler Bildungssystems. „Schule ist ein Begegnungsort und der wichtigste Ort meiner Ansicht nach für diejenigen, die die Zukunft dieses Landes mitgestalten werden. Und wenn sie eine gute Ausbildung bekommen, dann werden sie auch als Mitglieder dieser Gesellschaft ganz anders agieren und eine andere Perspektive haben, wo sie sich selbst für das Zusammenleben bemühen“, ist sie überzeugt.

Nach über 30 Jahren in Tirol und nach viel Engagement für Bildung und Migration weiß Nataša Maroševac genau, was das Schönste für sie ist: „Anzukommen, ankommen zu dürfen, aufhören, Koffer zu packen, fast über Jahrzehnte war das war mein Albtraum.“ Eines Tages sei das nicht mehr da gewesen. „Da wusste ich, ich bin hier daheim, und Tirol isch lei oans, aber ein wenig auch meins.“

Auf die Frage, was Zuhause schließlich für sie persönlich bedeute, sagt sie: „Wenn man eines Tages aufwacht und nicht mehr weiß, in welcher Sprache man träumte, ich glaube in dem Moment ist ein Zuhause die Welt, in der du Menschen kennst und dich wohlfühlst.“ Es sei nicht länger ein bestimmter Raum oder ein Platz, schon gar nicht eine national beschränkte Gegend. „Sondern es ist etwas, was unvergesslich ist und einem das Gefühl gibt, danke zu sagen, wenn es so weit kommt, dass man sich verabschieden muss. Es hat Sinn gegeben.“