Schulnachricht Zeugnis Volksschule
ORF
ORF
Bildung

Großer Notendruck belastet Volksschulen

Gymnasium oder Mittelschule? Diese Frage stellt sich derzeit für Tausende Kinder in den vierten Klassen der Volksschulen. Zum Semesterende ist die Anspannung sehr groß – gerade im Raum Innsbruck. Betroffene und Experten fordern deshalb eine Gesamtschule für die Zehn- bis 14-Jährigen. Das Land Tirol will die Mittelschulen stärken.

„Es macht schon viel Druck, dass man keine Drei im Zeugnis haben darf, sonst kommst du fast nicht ins Gymnasium“, sagt der zehnjährige Jakob. Er geht derzeit in die vierte Klasse der Volksschule Leitgeb I im Innsbrucker Stadtteil Pradl. Im Interview mit dem ORF Tirol beschreiben auch andere Kinder die Unsicherheit vor dem Semesterende.

Seine Klassenkollegin Anja, elf Jahre, sei derzeit aufgeregt darüber, dass sie in eine neue Schule komme. „Ich würde gerne noch hier bleiben, noch ein Jahr oder so“, sagt sie. Dass das nicht möglich ist, weiß sie genau. Rund um den Notenschluss und die anstehenden Semesterferien herrscht viel Anspannung im Schulalltag.

„Leistungszahl“ entscheidend für Platz in Gymnasium

Wie wichtig gute bzw. sehr gute Noten in den Schularbeiten sind, ist den Schülerinnen und Schülern bewusst. Denn wer im Raum Innsbruck nach der Volksschule ins Gymnasium wechseln möchte, braucht in der Schulnachricht der vierten Klasse fast alles Einser. Zusätzlich ist das Jahreszeugnis der dritten Klasse erforderlich.

Laut Bildungsdirektion Tirol gehen landesweit derzeit 7.154 Schülerinnen und Schüler in die vierte Klasse Volksschule. In den ersten Klassen AHS gebe es im laufenden Schuljahr 1.922 Plätze. Kommendes Jahr dürften es ähnlich viele sein.

Im Raum Innsbruck (Zirl bis Wattens) stehen ca. 2.000 Kinder vor dem Abschluss der Volksschule. Auf Basis der aktuellen Zahlen in den ersten Klassen AHS sei im kommenden Schuljahr mit etwa 860 Plätzen zu rechnen.

Die Noten werden schließlich für die Berechnung einer Leistungszahl (LZ) herangezogen. Sofern die Zahl der Bewerbungen jene der verfügbaren Plätze übersteigt, entscheidet die LZ über die Aufnahme. Neben den Noten wirkt sich etwa noch ein „Geschwisterbonus“ positiv auf die Aufnahme aus. An manchen Standorten kann zusätzlich eine Aufnahmeprüfung ausschlaggebend sein.

Die Direktorin der Pradler Volksschule Leitgeb I, Andrea Hofstädter-Binna, kennt das Thema schon lange. „Es ist leider immer noch der gleiche Druck und der gleiche Stress“, sagt sie. Seit Jahren gebe es Bestrebungen und Versuche, den Übergang von der Volksschule in die AHS oder die Mittelschulen anders zu gestalten. Hier habe es zahlreiche Treffen gegeben. Schlussendlich sei es immer dieselbe Geschichte.

Lehrperson beklagt massiven Druck durch Eltern

Eine Volksschullehrerin aus dem Großraum Innsbruck schilderte gegenüber dem ORF Tirol einen großen Druck seitens der Eltern. Die Lehrpersonen würden bei der Notengebung massiv bedrängt werden. Die Lehrerin, die anonym bleiben möchte, sagte: „Das beginnt teilweise schon in der zweiten Klasse Volksschule, verbal oder auch in Telefonaten“. Bei einem Zweier heiße es, man verbaue den Kindern die Zukunft und man sei schuld, wenn aus ihnen nichts wird. „Teilweise wird mit dem Anwalt gedroht. Eine Kollegin hatte über den Sommer Telefon-Terror“, so die Volksschullehrerin.

Der Grund dafür sei, dass die Eltern die Kinder im Raum Innsbruck unbedingt ins Gymnasium schicken wollen. Die Mittelschulen hätten hier einen sehr schlechten Ruf. In der Folge könnten nicht alle Lehrerinnen und Lehrer diesem Druck standhalten. „Manche geben dann lieber bessere Noten“, meinte sie mit Blick auf die teils fehlende Notenwahrheit.

Lernen Test Schule Volksschule Notendruck Schulstress
ORF
Der Noten- und Leistungsdruck sorgt vor allem im städtischen Raum für die Kinder der vierten Klasse Volksschule für Belastung

Den extremen Druck auf Lehrpersonen gebe es an ihrer Schule zwar nicht, meint Andrea Hofstädter-Binna, Direktorin in Pradl. Allerdings sei die Notengerechtigkeit tatsächlich häufig nicht gegeben. „Einfach deshalb, weil die Lehrpersonen nicht den Vorwurf bekommen wollen, man habe den Kindern Bildungschancen verbaut“, sagt sie.

„Spaß am Lernen geht verloren“

Die Präsidentin des Landeselternverbandes Tirol, Christiane Götz, spricht ebenfalls von einer großen Anspannung. Teilweise würden die Kinder in der Volksschule schon Nachhilfe bekommen, damit sie alles Einser haben. „Der Spaß am Lernen an sich geht unserer Meinung nach fast verloren, weil die Kinder so unter Druck gesetzt werden“, so Götz. Sie ist im Elternverband für den Pflichtschulbereich zuständig.

Götz sieht den Hauptgrund für das Problem in der frühen Trennung der Kinder nach der Volksschule. Bis dahin gebe es eine gute Durchmischung. Die Schülerinnen und Schüler könnten voneinander lernen. „Wenn dann aber getrennt wird ab der vierten Klasse, dann wird die Durchmischung aufgelöst und dadurch entstehen leider Brennpunktmittelschulen“, sagt sie. Eine Gesamtschule bis 14 Jahre wäre sehr hilfreich.

Bildungsforscher sieht Fehler im System

Die Ursache für den Stress in den ersten Schuljahren liegt für den Bildungsforscher Michael Schratz von der Universität Innsbruck im System. Im internationalen Vergleich gehöre Österreich mit Deutschland und Tschechien zu einigen wenigen Ländern, die noch so früh aussortieren würden. Er verweist beispielsweise auf das deutlich inklusivere Schulsystem in Südtirol. „So haben wir Strukturen von gestern, die für eine Gesellschaft von morgen ausbilden sollen“, sagt Schratz. Das sei nicht mehr sehr gut tragfähig.

Das österreichische Schulsystem sei zu wenig modern, weil es nicht gelinge, jeden einzelnen Menschen zu fördern. Die Chancen im Bildungswesen würden weitgehend noch vererbt werden. „Insofern haben wir auch ein ungerechtes Bildungssystem, weil gerade bestimmte Bevölkerungsschichten, auch jene, die die Sprache noch nicht beherrschen, nicht die gleichen Möglichkeiten haben“, meint er im Interview.

Stoppschild Druck Volksschule Eltern
ORF
In Österreich hängen die Chancen im Bildungswesen laut einem Experten stark vom Elternhaus ab

Es brauche „auf jeden Fall Gemeinsamkeit vor Trennung“. Dadurch, dass sich die jungen Menschen auch erst später, etwa in der Pubertät, entwickeln, sei eine frühe Auslese zwischen Gymnasium und Mittelschule auch gesamtwirtschaftlich problematisch. Schließlich gehe so das Potential vieler junger Menschen verloren.

Land Tirol will Mittelschulen unterstützen

Die Frage nach einer Gesamtschule stellt sich in der heimischen Bildungspolitik derzeit nicht. Zum Thema einer „gemeinsamen Schule“ verweist die zuständige Landesrätin Cornelia Hagele auf Anfrage unter anderem auf eine Arbeitsgruppe. Darin sollen „neue Schul-, Unterrichts- bzw. Lehrformen“ mit Expertinnen und Experten, Eltern, der Bildungsdirektion und den Schulen selbst erarbeitet werden.

Die Änderung der Schulorganisationsform liege ohnehin in der Kompetenz des Bundes. Insgesamt gehe es um eine „Entideologisierung des Themas“, so Hagele. Die Frage der Trennung bzw. der Gesamtschule sollte nicht im Vordergrund stehen. Stattdessen seien die Gestaltung eines guten Schulklimas und eine lebenswerte Schule wichtig. Die Inhalte, nicht die Strukturen sind für die Bildungslandesrätin demnach zentral. Konkret würden etwa neue Lehrpläne ab dem kommenden Jahr einen Beitrag für innovative Schulen leisten.

Bildungsdirektion setzt auf Information und Beratung

Überhaupt seien die Mittelschulen besser als ihr Ruf, sagt Werner Mayr, Leiter des pädagogischen Bereiches in der Bildungsdirektion Tirol. Diese hätten oft sehr erfolgreiche Schwerpunkte, etwa im Musik- oder Sportbereich. Letztlich sei auch über die Mittelschulen ein höherer Bildungsweg möglich. Mayr: „Über 70 Prozent der Jugendlichen, die über die berufsbildenden höheren Schulen die Matura machen, kommen von einer Mittelschule.“

Werner Mayr, Leiter pädagogischer Bereich, Bildungsdirektion Tirol
ORF
Werner Mayr, Leiter des pädagogischen Bereichs in der Bildungsdirektion Tirol, betont den Stellenwert der Mittelschulen

Mit der Wahl zwischen Gymnasium oder Mittelschule stelle sich daher „die Lebensentscheidung, die man glaubt treffen zu müssen“, noch nicht, sagt er. Darüber wolle man die Eltern besser beraten, zum Beispiel mit gemeinsamen Elternabenden. Dort würden Vertreterinnen und Vertreter beider Schulformen über die jeweiligen Vorzüge und Anforderungen berichten.

Außerdem müsse man laut Mayr den Mangel an Gymnasiumplätzen differenziert betrachten. Die starke Nachfrage gebe es hauptsächlich im Ballungsraum Innsbruck und Schwaz. Hier soll die neue Unterstufe in Volders ab dem kommenden Schuljahr die Situation entschärfen – mehr dazu in Künftig auch Unterstufe am PORG-Volders.

Trennung nach wie vor stark spürbar

Für Andrea Hofstädter-Binna, Direktorin in der Volksschule Pradl Leitgeb I, wäre die gemeinsame Schule für alle zehn- bis 14-Jährigen nach wie vor ein Ziel, das den Druck herausnehmen könnte. Trotz der Bemühungen um Vernetzung und Austausch im Rahmen der Bildungsdirektion dominiere nach wie vor die Trennung zwischen den Schularten.

Unabhängig von den Debatten um eine Gesamtschule steht für die Kinder in den vierten Klassen der Tiroler Volksschulen und deren Eltern eine Entscheidung an. Eine große Rolle werden dafür die Noten in der Schulnachricht am kommenden Freitag spielen. In den nächsten Wochen läuft anschließend die Anmeldephase für die weiterführende Schule.

Der zehnjährige Jakob weiß bereits, wo es ab dem nächsten Jahr hingehen soll. Dass er in seine Wunschschule, ein Gymnasium in Innsbruck, nur mit alles Einser oder einem Zweier kommt, ist ihm ebenfalls bewusst. Das sei ihm von den Direktoren an den Tagen der offenen Tür vermittelt worden.