In Tirol werden 2.100 Almen bewirtschaftet, aber es werden immer weniger. Die großen Beutegreifer kehren zurück in den Alpenraum und ungeschützte Nutztiere sind eine leichte Beute für Wolf und Bär. Durch die Klimaerwärmung steigt die Waldgrenze kontinuierlich nach oben. Almflächen, die nicht regelmäßig beweidet werden, wachsen immer mehr zu.
Sendungshinweis
3sat Dokumentation
„Zwischen Wolf und Klimawandel – Tiroler Almen unter Druck“
Ein Film von Teresa Andreae
23.8.2023, 20.15, 3sat
Weniger Milchkühe, dafür mehr Mountainbiker
Die Zahl der Milchkühe, die ihre Sommerfrische auf der Alm verbringen, ist in den letzten zehn Jahren gesunken. Die Milchverarbeitung macht viel Arbeit und wer kann sich das Personal von früher leisten? Dagegen radeln immer mehr E-Biker auch die steilsten Wege bergauf, um sich auf den Almen zu erfrischen.
Melkalm ohne Zufahrt
Die Bodenalm im hintersten Zillertal ist ein extremes Beispiel. Es ist eine der letzten Melkalmen in Tirol, die keine Zufahrt hat. Die vier Besitzer kämpfen seit Jahren um eine Straße, doch sie haben wenig Aussicht auf Erfolg. Für eine Zufahrt müsste man im Ruhegebiet im Naturpark Zillertal sprengen. Die Baukosten werden auf eine Million Euro geschätzt.
Almabtrieb über barocke Steinstufen
„Wenn wir keinen Weg bekommen, werde ich wohl der letzte Hirte auf der Bodenalm sein“, sagt Johann Stock. Der Mitbesitzer hat das Vieh in den letzten Jahren allein gehütet. Früher haben wesentlich mehr Menschen mitgeholfen, ein Melker, ein Putzer, ein Schäfer und ein Käser. Doch das Personal kann sich heute niemand mehr leisten.

„Von der Romantik allein können wir nicht leben“, fügt Stock bitter hinzu. Er hat wenig Hoffnung. „Wenn wir nicht bald eine Zufahrt bekommen, ist es aus!“ Im Herbst müssen die Tiere über barocke Steinstufen ins Tal hinunter klettern. Diesen spektakulären Weg haben die Vorfahren von Johann Stock im Jahr 1764 in den Fels gehauen. Die behäbigen Rinder balancieren zwar überraschend geschickt über den schmalen Steig ins Tal, doch es ist eine Quälerei für Mensch und Tier.
Strapaze für Mensch und Tier
„Die Kühe leiden danach unter Muskelkater und Verstauchungen“, beschreibt der Hirte die Strapazen. Auch für die Treiber sei der Abstieg gefährlich. „Wenn man zwischen die Tiere gerät und eines ausrutscht, wird man zerquetscht.“ Stock befürchtet, dass einmal etwas passieren könnte. Auch wenn die Alm seit mehr als 250 Jahren bewirtschaftet wird, denken die Bauern daran, die Alm im Zillergrund aufzulassen.

„Wir werden international um die Almen beneidet“
Theresa Mitterer-Leitner vom Innsbrucker MCI ist selbst auf einem Bauernhof im Tiroler Unterland aufgewachsen und beschäftigt sich wissenschaftlich mit dem Thema Alm. Die Tourismusforscherin analysiert zum Beispiel Nutzungskonflikte, die zwischen Tourismus und Landwirtschaft aufkommen.
Auf internationalen Kongressen sagen ihr immer wieder Kolleginnen, etwa aus den USA oder aus Schweden, dass sie Tirol um diese uralte, gepflegte Kulturlandschaft beneiden würden. „Wenn eine Almwirtschaft einmal aufgelassen ist“, erklärt die Forscherin, „lässt sie sich nur sehr schwer wieder neu beleben.“

Die Alm als Glücksfall
„In einer Zeit, in der sich viele Menschen regional produzierte Lebensmittel wünschen, ist die Alm ein Glücksfall“, betont Mitterer-Leitner. „Dass wir diese Form der Bewirtschaftung noch haben, ist etwas, worum wir international beneidet werden. Wenn man in der Lebensmittelproduktion heute innovativ sein wollte, müsste man die Alm jetzt neu erfinden!“

Kaum noch Milchverarbeitung auf den Tiroler Almen
Die Außermelang Alm im Wattental ist eine der wenigen Tiroler Almen, auf der die Milch noch direkt vor Ort verarbeitet wird. Um sechs Uhr früh galoppieren 80 Milchkühe von der Nachtweide hinunter ins Almdorf. Sie haben es eilig, gemolken zu werden.
Während jeder Bauer seine Kühe im eigenen kleinen Stall melkt, bereitet sich Käsemeister Ludwig Klingler auf sein Tagwerk vor und spritzt die Sennerei mit kaltem Wasser aus. Der bald 70-jährige Senner verarbeitet in einem Almsommer ungefähr 120.000 Liter Milch zu Almkäse und Butter.
Die Nachfrage sei größer als das Angebot, berichtet Klingler zufrieden. Das Zusammenspiel zwischen den Kühen, den Bauern und dem Käsemeister würde in Außermelang gut funktionieren. Hier hat sich eine kleine, feine, regionale Nische erhalten. In Tirol gibt es ungefähr noch zwanzig florierende Almkäsereien.

Herdenschutzprojekt am Arlberg
Im Verwalltal, das sich von St. Anton am Arlberg Richtung Süden öffnet, trotzt die engagierte Hirtin Anita Gnigler den großen Beutegreifern mit einem aufwendigen Herdenschutzprojekt. Im Juli 2021 haben Bär und Wolf in diesem Gebiet 19 Schafe gerissen, 25 wurden vermisst.
Alfons Falch verwaltet dieses Gebiet, das mit 4500 Hektar eines der größten Almgebiete in Tirol ist. Seine Funktion bezeichnet man seit dem Mittelalter auch etwas antiquiert als „Gewalthaber“ im „Zweidrittel-Gericht“. Nach den ersten Rissen im Verwalltal hat Falch schnell reagiert und in Absprache mit den zehn zuständigen Bürgermeistern ein Herdenschutzprogramm initiiert.
Die Alm im Verwalltal ist eines von drei Pilotprojekten, die das Land Tirol begleitet und finanziell unterstützt. Der Herdenschutzbericht 2023 hat ergeben, dass die Kosten pro Schaf pro Saison ungefähr 114 Euro betragen.

„Eine Alm ist kein flacher Fußballplatz“
Die Hirtin Anita Gnigler und ihr Partner Peter Niedermair sind mit dem Auf- und Abzäunen von kilometerlangen Netzzäunen beschäftigt. Die beiden haben jahrelang in der Schweiz gehütet und viel Erfahrung mit der gelenkten Weideführung. Im hochalpinen Gelände ist das Zäunen eine Herausforderung sowohl zeitlich als auch körperlich.
Peter Niedermair meint scherzend, mit einem Fußballplatz könne man das Gelände nicht vergleichen. In der Nacht treiben sie die Schafe in einen Ruheplatz, der mit einem 1,20 Meter hohen Herdenschutzzaun gesichert ist. Der Zaun ist mit mehr als 4.000 Volt geladen. Für die Hirtenhunde ist der Zaun allerdings kein großes Hindernis. Die springen aus dem Stand darüber.

Aufstehen mit einem flauen Gefühl im Bauch
In der Früh, wenn sie zur Herde geht, hat die Hirtin immer Herzklopfen und fragt sich, ob noch alle Schafe im Gehege am Leben sind. „Ich weiß nicht, wie ich reagiere, wenn ich angeknabberte Schafe finde“, sagt Gnigler.
„Ich betreibe diesen Aufwand mit dem Herdenschutz, weil ich will, dass es den Tieren gut geht. Es ist so schön zu sehen, wie friedlich sie hier grasen. Ich schaue mir das jetzt mal an, dann entscheide ich, ob ich es weiter so machen werde.“ Sie wolle auf keinen Fall, dass der Wolf ausgerottet wird, doch ihre persönliche Meinung sei, dass man den Wolf regulieren müsse, genauso wie andere Wildtiere auch.

Vom Büro auf die Alm
Die 55-jährige Salzburgerin hat früher in einem Steuerberatungsbüro als Buchhalterin gearbeitet und dann über Umwege ihren Lebenssinn auf der Alm gefunden. „Wenn ich einmal sterbe, möchte ich sagen, dass ich ein glückliches Leben geführt habe. Das Hüten macht mich zufrieden und glücklich.“
Trotz der Strapazen, den 14 Stunden Tagen ohne Wochenende, könnte sich Anita Gnigler keinen schöneren Job vorstellen. „Im Sommer sollte man eine Hirtin nie fragen, ob sie im nächsten Jahr wieder auf die Alm gehen will. Da denke ich schon manchmal ans Aufhören. Doch spätestens im Jänner zieht es mich wieder hinauf auf den Berg“, schmunzelt die leidenschaftliche Hirtin.

Wenn die Aasgeier kreisen
Franz Josef Holzknecht hat zwanzig Jahre lang auf der Innerberg Alm oberhalb von Längenfeld im mittleren Ötztal als Hirte gearbeitet. Das karge Gelände ist für Milchkühe weniger geeignet, daher weidet hier vor allem Galtvieh. So bezeichnet man das Jungvieh, das „galt“ also „trocken“ ist und noch keine Milch gibt.
Im weit verzweigten Almgelände grasen 400 Schafe, wo es ihnen gefällt. Die Tiere sind im Gegensatz zu den Schafen im Verwalltal sich selbst überlassen. Der Hirte bringt ihnen alle paar Tage Salz vorbei. Risse durch große Beutegreifer würde man trotzdem bemerken, erklärt Franz Josef Holzknecht. „Spätestens wenn die Aasgeier über den Böden ihre Kreise ziehen, weiß man, dass etwas passiert ist“, sagt der Ötztaler Hirte.

Schafe sind kein „Wolfsfutter“
Mit dem Thema Herdenschutz kann sich Holzknecht nicht anfreunden. Das sei im hochalpinen Gelände nur sehr schwer umsetzbar, betont er. Dieser Meinung sind auch viele Tiroler Nebenerwerbsbauern, die nur wenige Schafe im Stall stehen haben. Sie wollen nicht im Winter „Wolfsfutter“ züchten, wie sie es überspitzt formulieren. Da würden sie lieber die Stalltür für immer zunageln.
Experten rechnen damit, dass sich die Anzahl der Schafe in Tirol in den nächsten Jahren halbieren wird. Derzeit werden in Tirol ungefähr 65.000 Schafe im Sommer gealpt.

Der Wolf ist gekommen, um zu bleiben
Das komplexe Thema lässt sich kaum in schwarz oder weiß abhandeln. Die Frage heißt längst nicht mehr: Wolf – ja oder nein? Sie lautet: Wolf – ja, aber wie? Denn in den Nachbarregionen, dem italienischen Trentino oder im Schweizer Kanton Graubünden tummeln sich wesentlich mehr Wölfe, als in Tirol. Wölfinnen und Wölfe wandern kilometerweit und kennen keine Grenzen. Daher sei eine Rudelbildung auch in Tirol jederzeit möglich, sagt Martin Janovsky, der Beauftragte für große Beutegreifer des Landes Tirol.

Herdenschutzhunde zur Unterstützung der Hirten
Eine Möglichkeit für die Verbesserung des Herdenschutzes seien speziell ausgebildeten Herdenschutzhunde, meint Albin Blaschka. Er leitet das vom Bund 2019 gegründete Österreichzentrum für Bär, Wolf und Luchs im steirischen Irdning.
In der Schweiz sind derzeit mehr als 300 Herdenschutzhunde auf 100 Almen im Einsatz. In Österreich sei die Entwicklung etwas langsamer angelaufen, erklärt Blaschka. Er ist gerade dabei, die ersten Herdenschutzhunde in Tirol zu zertifizieren.
Die Gefahr, die wehrhaften Hunde, die einen Wolf abschrecken sollen, könnten ihre Herde auch gegen Wanderer oder Mountainbikerinnen bis aufs Blut verteidigen, sei durch gutes Training zu verringern, betont der Experte. Der Hund sei ein zentrales Werkzeug, neben der gelenkten Weideführung mit Hirten und Hirtinnen und dem Elektrozaun.
Doch der Herdenschutzhund sei sicher nicht das einzig wahre Allheilmittel. Ein Hund kostet Geld und die anspruchsvollen Tiere müssen auch im Winter bei einer Herde leben und gut betreut werden.

Zwischen Wolf und Klimawandel
Auch das Klima setzt die Almen unter Druck. Durch die höheren Temperaturen steigt die Waldgrenze langsam nach oben. Wenn immer weniger Tiere aufgetrieben und die Wiesen nicht mehr regelmäßig beweidet werden, wachsen die Almflächen immer mehr zu.
Vielleicht sei die Klimaerwärmung auch eine Chance, mutmaßt der Ökologe Georg Leitinger von der Universität Innsbruck. Wenn es im Tal immer heißer und trockener wird, würde man vielleicht in Zukunft wieder die Vorteile in der Höhe mehr schätzen?

Für die 3sat-Dokumentation „Zwischen Wolf und Klimawandel – Tiroler Almen unter Druck“ hat Teresa Andreae mit einem Team entlegene Almen in ganz Tirol besucht und mit unterschiedlichen Expertinnen und Experten gesprochen. In dem Film geht es weniger um die Darstellung der Alm als Sehnsuchtsort sondern um das Aufzeigen der vielschichtigen Probleme, mit denen die Almbauern zu kämpfen haben.