Obdachlos? Junge Frau bzw. Jugendliche sitzt im Freien auf einer Stufe
APA/HELMUT FOHRINGER
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Care Leaver: Mit 18 auf sich allein gestellt

Etwa 850 Tiroler Jugendliche leben aus verschiedenen Gründen nicht bei ihren Familien. Sie wachsen bei Pflegefamilien auf, leben in betreuten Wohngemeinschaften oder Heimen. Mit Beginn der Volljährigkeit endet der Anspruch auf Betreuung abrupt, sie werden zu sogenannten Care Leavern.

Lisa steht kurz vor ihrem 18. Geburtstag. Anstatt sich darauf zu freuen, erlebt die Jugendliche unheimlichen Stress. Sie lebt allein, zur Familie gibt es wenig bis keinen Kontakt. „Mit 15 Jahren bin ich das erste Mal in eine stationäre Unterbringung gekommen, das war zwei Wochen vor meinem 16. Geburtstag. Das war damals eine Notlösung. Das war so eine Einrichtung für Jugendliche, in der man halt maximal zwei Wochen sein kann“, erzählt sie. Lisa steht für viele andere Care Leaver in Tirol, sie möchte im Interview mit dem ORF Tirol anonym bleiben.

18 Jahre alt und allein

Danach wechselt sie in eine betreute Wohngemeinschaft und anschließend in die ambulante Betreuung. Sie bekommt Unterstützung von ihren Betreuerinnen und Betreuern und wird auch finanziell durch die Kinder- und Jugendhilfe gestützt. Mit der Volljährigkeit endet dieser Anspruch aber abrupt. Lisa muss von einem Tag auf den anderen auf ihren eigenen Beinen stehen.

„Das ist eine hochdramatische Geschichte, um es einfach zu sagen“, so Erziehungswissenschafterin und Sozialarbeiterin Christina Lienhart, „dass von jungen Menschen, die eigentlich auf Basis ihrer Biografie eh schon wahnsinnig viel nachzuholen haben, innerhalb von kurzer Zeit verlangt wird, dass sie auf eigenen Füßen stehen. Da reproduzieren wir Ungleichheiten.“ Christina Lienhart fordert einen generellen Rechtsanspruch auf weitere Betreuung bis zum 21. Lebensjahr, mindestens.

Christina Lienhart
ORF
Christina Lienhart beschäftigt sich seit Jahren mit Care Leavern.

In Österreich gibt es kein einheitliches Kinder- und Jugendhilfegesetz, aber es gibt vereinbarte Mindeststandards. Darunter fällt die Erziehungshilfe bis zum 18. Lebensjahr und eine Anschlusshilfe bis zum 21. Lebensjahr. Die muss aber angefordert werden, sie wird nicht immer genehmigt. Außerdem muss die Anschlusshilfe jährlich beantragt werden.

Schon in jungen Jahren große finanzielle Sorgen

Genau in diese Situation kommt Lisa kurz vor ihrem 18. Geburtstag. „Es wird evaluiert, ob man selbstständig ist. Wenn jeder jetzt zurückdenkt, wie man selbst mit 18 war, also von Selbstständigkeit ist da nicht zu sprechen“, erinnert sich die junge Frau. Zu dieser Zeit macht sie gerade Matura und arbeitet nebenher, um über die Runden zu kommen. Sie lebt in einer betreuten Einzelwohnung, bekommt Unterstützung für die Miete.

„Das Finanzielle war eigentlich meine größte Sorge damals. Man hat die ganze Zeit im Hinterkopf, geht sich das finanziell alles aus? Und wenn die Anschlusshilfe nicht durchgeht, was dann? Wo kann ich leben? Nachhause ziehen war zu dem Zeitpunkt keine Option, es hat auch das Zuhause in der Form nicht mehr gegeben. Das sind halt so existenzielle Dinge, um die man sich da Sorgen macht mit 17.“

Christine Schatz
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Als Betreuerin kennt Christine Schatz die Probleme der jungen Erwachsenen.

Lisa träumt vom Studieren und fällt nicht auf – genau das hätte ihr fast die weitere Betreuung gekostet. „Es fühlt sich so unfair an, denn man sucht sich nicht aus, in welche Familie man hineingeboren wird, aber man muss trotzdem mit den Konsequenzen umgehen“, sagt sie.

Ihre Betreuerin Christine Schatz setzt sich dafür ein, dass Lisa Anschlusshilfe bis 21 erhält. „Es war ein Kampf“, erinnert sich Schatz, „ich kann mich erinnern, Lisa hat immer so einen unglaublichen Stress gehabt. Da denkt man sich: Warum muss jemand mit 17, 18 solche Sorgen haben? Jemand, der eh schon einen Rucksack mit Problemen hat?“

Gefangen in der Abwärtsspirale

Wenn die Anschlusshilfe nicht genehmigt wird, fallen alle Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe mit dem 18. Geburtstag weg. Viele würden dann in anderswo aufschlagen, zum Beispiel in Einrichtungen für Wohnungslose. Dort seien die Gegebenheiten aber überhaupt nicht auf junge Erwachsene eingerichtet, so Christine Schatz. Für viele sei es dann gar nicht mehr möglich, in eine Eigenständigkeit zu kommen.

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Care Leaver rutschen oft in die Wohnungslosigkeit

„Da gibt es wirklich, wirklich schwierige Situationen. Man muss in die jungen Leute investieren, weil dann hat man wirklich eine Chance, dass sie ein gutes Leben führen können. Und nicht in die nächsten Sozialsysteme, Wohnungslosenhilfe, Abhängigkeitserkrankungen oder Arbeitslosigkeit rutschen. Das ist ein Kreislauf, der sich dann leider immer wieder wiederholt.“

Christine Schatz fordert ein individuelles Eingehen auf die jungen Erwachsenen, Hilfeleistungen dort, wo es sie braucht, auf die Situation und Person zugeschnitten. Der Anspruch auf Unterstützung hänge für sie nicht an einem Geburtstag.

Zahl der Care Leaver nicht erfasst

Wie viele Care Leaver es in Tirol gibt, ist nicht erfasst. Laut Statistik Austria hat es im Jahr 2022 rund 850 Kinder und Jugendliche in Fremdunterbringung gegeben, sie alle werden irgendwann die Betreuungseinrichtungen verlassen. Lisa ist mittlerweile Ende Zwanzig und schreibt an ihrer Masterarbeit in Psychologie. Sie ist ein „Paradebeispiel“, wie ihre Betreuerin sagt, so etwas schaffe eine aus hundert Care Leavern.