Liederbaum Volksliedwerk
ORF.at/Georg Hummer
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Kultur

Die vergessene Strophe von „Stille Nacht“

Sechs bekannte Strophen hat das Weihnachtslied „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Eine zusätzliche unbekannte Strophe kommt aus der Gemeinde Waidring im Tiroler Unterland. Bereits ein Jahr nach der Erstaufführung von „Stille Nacht“, ist ein Liederbuch datiert, in dem diese Strophe dokumentiert ist.

Es handelt sich um ein handschriftliches Kirchenliederbuch aus dem Jahr 1819, in dem die siebte Strophe von „Stille Nacht“ erstmals auftaucht. Das Liederbuch beinhaltete eine der ältesten Abschriften des Liedes außerhalb von Salzburg, gilt aber heute als verschollen. Angefertigt wurde es vom damaligen Waidringer Lehrer und Organisten Blasius Wimmer. „Bemerkenswert ist, wie es das Lied so schnell in so kurzer Zeit nach der Erstaufführung in Oberndorf bei Salzburg nach Tirol geschafft hat“, sagt Hans Steiner, Orts-Chronist der Gemeinde Waidring. Wimmer war ein besonders fähiger Mann, der viel aufgeschrieben und dokumentiert habe, fährt Steiner fort: „Die Originalversion hat er leicht adaptiert und um eine siebte Strophe ergänzt.“

„Heiliger Tag“ statt „Heilige Nacht“

Inhaltlich ist die siebte Strophe von „Stille Nacht“ den heiligen drei Königen gewidmet. Das Besondere an ihr ist die Tatsache, dass nicht die heilige Nacht, sondern der heilige Tag besungen wird. Das hat mit dem damaligen Verständnis von Weihnachten zu tun, so der Waidringer Orts-Chronist: „Der heilige Tag, also der 25. Dezember war an sich der Höhepunkt der christlichen Weihnachtsfeiertage. Der Heilige Abend, der 24. Dezember hingegen, spielte damals noch nicht so eine große Rolle.“ So heißt es in der Waidringer Version in allen Strophen nicht „Stille Nacht, Heilige Nacht“, sondern „Heiliger Tag, Stille Nacht“.

„Das Geniale an Wimmers Abänderung und an der neuen Strophe war, dass das Lied multifunktional einsetzbar wurde“, erklärt der historische Musikwissenschaftler Thomas Hochradner vom Mozarteum in Salzburg. „Stille Nacht“ konnte somit nicht mehr nur am Heiligen Abend gesungen werden, sondern war auch noch am Christ- und Dreikönigstag aktuell.

Wie es das Lied so früh schon nach Tirol geschafft hat, ist bis heute nicht restlos geklärt. Angenommen wird allerdings, dass es ein Mitbringsel von Reisenden war: „In Waidring gab es damals eine Poststation, an der die Pferde umgespannt wurden. Fast alle Reisenden blieben ein oder zwei Tage, bevor die Reise weiterging. Gut möglich, dass ein Reisender das Lied so mit nach Waidring brachte“, erzählt Orts-Chronist Steiner.

Noten und Liedtext von „Stille Nacht“
Florian Pirnbacher/Auf an Ratscha im Pillerseetal
Die Tiroler Version von „Stille Nacht“, inklusive der vergessenen siebten Strophe.

Von Tirol in die Welt

Eine wichtige Persönlichkeit für die Verbreitung von „Stille Nacht“ war Carl Mauracher, ein Orgelbauer aus dem Zillertal. Mauracher war in den 1820er-Jahren mehrere Male für Reparaturarbeiten an Orgeln in Salzburg. Unter anderem traf er dabei auch den Komponisten von „Stille Nacht“ Franz Xaver Gruber und nahm das Lied bei seiner Heimreise nach Tirol mit ins Zillertal. Martin Reiter, Mitglied der Stille-Nacht-Gesellschaft, geht davon aus, dass genau dieser Orgelbauer das Lied auch mit nach Waidring brachte: „Als im Winter der Gerlospass tief verschneit war, war die Route über Waidring und den Pass Strub der sicherste und schnellste Weg nach Salzburg. Außerdem gibt es Hinweise dafür, dass Mauracher auch in Waidring die Kirchenorgel repariert hat.“

Neben dieser, gibt es auch noch eine zweite Theorie, wie das Lied nach Tirol kam, ergänzt Reiter: „Es gibt auch Hinweise dafür, dass sich der Waidringer Organist Wimmer und der „Stille Nacht“-Komponist Gruber persönlich kannten und im gegenseitigen Austausch waren. Gut möglich, dass Wimmer das Lied und die Noten auch direkt von Gruber erhalten hat, und so mit nach Waidring brachte.“

Wissenswert:

Von „Stille Nacht“ singt man in der Regel drei Strophen – allerdings nicht die ersten drei, sondern nur die ersten beiden und die sechste Strophe.

Wo in Tirol „Stille Nacht“ zum ersten Mal gesungen wurde, lasse sich heute nicht mehr genau sagen. Vermutlich sei das Lied in Waidring und im Zillertal ungefähr zeitgleich angekommen, so der Experte. Während es in Waidring aber nur eine lokale Bedeutung hatte, wurde es vom Zillertal aus in die ganze Welt getragen. Verantwortlich für die Verbreitung in Europa waren Sängergruppen aus dem Zillertal, allen voran die Familien Rainer und Strasser. Die in Waidring entstandene siebte Strophe schaffte damals den Sprung ins Zillertal nicht, weshalb sie in Vergessenheit geriet.

Grüße aus Amerika

Neben Sängergruppen waren es auch Auswandererfamilien, die „Stille Nacht“ mit in ihre neue Heimat nahmen und so auf der ganzen Welt verbreiteten. Der Waidringer Orts-Chronist Hans Steiner kennt eine Anekdote aus dem Unterland: „Aufgrund der schwierigen Lebensumstände zur damaligen Zeit, wanderten viele Familien nach Amerika aus, so auch eine Waidringer Familie. Im Jahr 1882 schrieb der Familienvater einen Brief in die Heimat, indem er freudig berichtete, dass die 4-jährige Tochter in Amerika das Lied „Stille Nacht“ bereits auswendig singen könne!“