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Chronik

Novemberpogrom: Gedenken an Kriegszeiten

Mit dem Krieg im Nahen Osten kommen Hass, Antisemitismus und Rassismus wieder stärker zum Vorschein. Unter diesem Eindruck steht auch der Jahrestag des Novemberpogroms am Donnerstag. Gerade in Tirol, wo die Ausschreitungen der Nazis besonders brutal waren, ist das Erinnern 85 Jahre danach in Schulen und in der Gesellschaft allgegenwärtig.

„Emotional geht es mir nicht so gut, wenn ich mitbekomme, dass jeden Tag Kinder und alte Menschen sterben, dass sie gefoltert werden und es Geiseln gibt“, sagt der 14-jährige Evran auf die Frage, wie es ihm angesichts des Krieges im Nahen Osten geht. Er ist Schüler in einer fünften Klasse des Innsbrucker Bundesrealgymnasiums Adolf-Pichler-Platz. Anderen Kolleginnen und Kollegen aus seiner Klasse geht es sehr ähnlich. Beim Besuch des ORF Tirol während einer Unterrichtsstunde des Faches Geschichte und Politische Bildung erzählen sie von ihren Eindrücken.

Für den 14-jährigen Nils sei es auch traurig, dass Kinder sterben. Außerdem störe es ihn, wie die Palästinenser als Täter und die Israelis als Opfer dargestellt würden. „Obwohl ich finde, dass nicht die gesamte palästinensische Bevölkerung die Täter sind, sondern eigentlich nur die Hamas“, meint er. Seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf jüdische Siedlungen am 7. Oktober ist die neue Eskalation der Gewalt offensichtlich auch bei Kindern und Jugendlichen sehr präsent.

Novemberpogrom Unterricht Schule Bildung Geschichte
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Der Lehrer Stephan Scharinger behandelt in seinem Unterrichtsfach Geschichte und Politische Bildung aktuelle Entwicklungen rund um Antisemitismus und den Nahost-Konflikt

Für einige der Schülerinnen und Schüler ist der Krieg im Gaza-Streifen durchaus belastend. Die Bilder und Videos von Ausschreitungen, Kampfhandlungen oder von zerstörter Infrastruktur gehen nicht spurlos an ihnen vorbei. „Mich nervt es langsam ein bisschen, wenn die ganze Zeit nur mehr von diesem Konflikt berichtet wird, vom Ukraine-Krieg hört man ja fast gar nichts mehr, und das ist ja eigentlich auch noch ein relativ aktuelles Thema“, so die 15-jährige Anna.

Veranstaltungshinweise

Am Mittwoch, 8.11., findet um 19.00 Uhr ein Gedenkkonzert anlässlich 85 Jahre Novemberpogrom in den Innsbrucker Ursulinensälen statt.

Am Donnerstag, 9.11., 17.30 Uhr, erinnern Organisationen am Jüdischen Friedhof am Innsbrucker Westfriedhof in einer traditionellen Gedenkveranstaltung an die historischen Ereignisse. Um 19.00 Uhr spricht der Historiker Horst Schreiber im Innsbrucker Landhaus mit der Holocaust-Überlebenden Marion Fischer.

Diskurs und Dialog als wichtige Elemente

In seinem Unterricht im Fach Geschichte und Politische Bildung greift der Lehrer Stephan Scharinger die aktuellen Geschehnisse auf. Er weiß, wie belastend die Ereignisse für junge Menschen sein können, vor allem wegen der teils ungefilterten Bilderflut auf Social Media wie Instagram oder TikTok. Viele Schülerinnen und Schüler seien davon sehr emotional mitgenommen und könnten die Videos oft nicht einordnen. „Auffällig ist, dass auch schon unsere Kleinen sehr viel mitbekommen in der Unterstufe. Und dort ist es doch eher schwierig, das Thema multiperspektivisch zu behandeln“, sagt Scharinger.

In der Oberstufe gelinge das oft besser. Hier hätten die Schülerinnen und Schüler bereits einen reflektierteren Umgang mit dem Thema. Mit der Schule sieht er es jedenfalls als seine Verantwortung, das Thema nach Möglichkeiten aufzugreifen, die Erfahrungen einzuordnen und darüber zu sprechen. „Ich glaube der Diskurs und der Dialog sind die wichtigen Punkte, die man suchen muss und gerade die Schule ist der Raum, an dem Argumente und Sichtweisen aus der Gesellschaft geäußert werden sollen.“

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Die Schule trage eine Verantwortung dabei, die teils irritierenden Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler einzuordnen

Wie wichtig die historisch-politische Analyse ist, weiß auch Irmgard Bibermann. Die Historikerin und Dozentin der Vermittlungsplattform erinnern.at betont, dass die Ereignisse von heute mit jenen von damals in Beziehung gesetzt werden müssen. Schließlich ist das Novemberpogrom in Innsbruck vor 85 Jahren besonders brutal ausgefallen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ermordeten die Nazis in der damaligen Hauptstadt des Gaues Tirol-Vorarlberg vier Juden. „In der relativ kleinen Stadt Innsbruck mit einer ganz kleinen jüdischen Gemeinde waren vier Todesopfer ein negativer Höhepunkt des Novemberpogroms im ganzen Deutschen Reich, wo man von insgesamt 100 Todesopfern ausgeht“, so Bibermann.

Brutale Ausschreitungen gegenüber Jüdinnen und Juden

Die Aktionsgruppen der Nazis bestanden unter anderem aus Vertretern von SA und SS. Nach Anweisung von Gauleiter Franz Hofer würde sich in dieser Nacht „das Volk erheben“. Die NS-Propaganda wollte es als spontanen Wutausbruch und als Vergeltungsschlag inszenieren. Als Anlass diente ein Schussattentat eines Juden auf ein deutsches Botschaftsmitglied in Paris. „Dann hatte man einen Vorwand, um längst geplante brutale Ausschreitungen in die Tat umzusetzen und es ausschauen zu lassen, als würde die ‚Volksseele kochen‘“, sagt die Historikerin.

Tatsächlich war es also ein zentral von oben geplanter Gewaltexzess, den die nationalsozialistische Führungsriege angeordnet hatte. Die Polizei sollte in der Nacht nicht eingreifen. Insgesamt wurden in Innsbruck laut der Website „pogrom-erinnern.at“ mindestens 28 Juden und zehn Jüdinnen teilweise schwer verletzt. Die Nazis drangen in zumindest 36 Wohnungen von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern ein, plünderten Geschäfte und beschädigten den Gebetsraum der Israelitischen Kultusgemeinde.

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Die Inschrift „Josef Adler“ beim Pogromdenkmal auf dem Innsbrucker Landhausplatz
Josef Adler Novemberpogrom
eduard-wallnoefer-platz.at
Josef Adler
Wilhelm Bauer Novemberpogrom Denkmal
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Die Inschrift „Wilhelm Bauer“ beim Pogromdenkmal auf dem Innsbrucker Landhausplatz
Wilhelm Bauer Novemberpogrom
erinnern.at
Wilhelm Bauer
Richard Berger Novemberpogrom Denkmal
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Die Inschrift „Richard Berger“ beim Pogromdenkmal auf dem Innsbrucker Landhausplatz
Richard Berger
Archiv Israelitische Kultusgemeinde
Richard Berger
Richard Graubert Novemberpogrom
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Die Inschrift „Richard Graubart“ beim Pogromdenkmal auf dem Innsbrucker Landhausplatz
Richard Graubart Novemberpogrom
doew.at
Richard Graubart

Drei Männer – Wilhelm Bauer, Richard Berger und Richard Graubart – fanden in der Nacht auf brutale Weise den Tod. Das vierte Opfer, Josef Adler, starb wenige Wochen später an den Folgen der Misshandlungen. Mehrere Juden wurden in „Schutzhaft“ genommen. Es war ein systematisches Vorgehen der Nazis. Davon zeugt ein Eintrag in den Akten des Sicherheitsdienstes der SS (SD) vom 12. November 1938: „Falls Juden bei dieser Aktion keinen Schaden erlitten haben, dürfte dies darauf zurückzuführen sein, dass sie übersehen wurden.“

Denkmal am Landhausplatz erinnert an Ereignisse

Zum Zeitpunkt des Novemberpogroms hatte schon ein Drittel der jüdischen Gemeinde Innsbruck verlassen. Denn auch vor dem November 1938 gab es Ausgrenzung und Diskriminierung gegenüber dieser Minderheit in Tirol, etwa Schulverbote oder die Arisierung von jüdischem Eigentum. Das Pogrom sei dabei laut Bibermann aber ein erster „Höhepunkt“ gewesen. Danach sei Jüdinnen und Juden eine Frist gesetzt worden, denn sie sollten Tirol verlassen. Nach Wunsch von Gauleiter Hofer sollte es der „erste judenreine Gau“ im Deutschen Reich werden. Fast alle jüdischen Familien gingen dann nach Wien, wo sie später teils weiter in Konzentrationslager deportiert wurden.

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Das „Pogromdenkmal“ am Innsbrucker Landhausplatz wurde 1995 von Jugendlichen initiiert

Auf dem Eduard-Wallnöfer-Platz in Innsbruck erinnert seit knapp 30 Jahren ein Denkmal an das Novemberpogrom in Innsbruck. Im Jahr 1995 sprachen sich Schülerinnen und Schüler beim „Landtag der Jugend“ dafür aus, ein Erinnerungszeichen zu schaffen. Zwei Jahre später wurde es eingeweiht. Auf einem Sockel mit den Namen der vier Todesopfer ragt eine Menora, ein siebenarmiger Leuchter, als eines der zentralsten religiösen Symbole des Judentums in die Höhe. Rundherum finden sich Inschriften mit den damaligen Absichten der Initiatorinnen und Initiatoren: „Um nicht zu verschweigen“, was damals passiert ist und „um nicht zu vergessen, dass Vorurteile, Hass und Unbesonnenheit zu einer grausamen Spirale der Gewalt führen können“.

Wunsch nach Frieden ist groß

85 Jahre danach sind mit der Gewalt im Nahen Osten, mehreren Tausend Toten auf beiden Seiten und einer viel georteten „humanitären Katastrophe“ Rassismus und Antisemitismus wieder omnipräsent. Für die Historikerin und Dozentin Irmgard Bibermann brauche es umso mehr ein Erinnern, das über politische Sprüche und Lippenbekenntnisse hinausgeht: „Es braucht immer wieder die historisch-politische Analyse von dem was zwischen 1938 und 1945 in Österreich passiert ist sowie die Frage, welche Haltung man heute gegenüber Minderheiten einnimmt.“

Pogromdenkmal Innsbruck Landhausplatz
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„… um nicht zu verschweigen, dass in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, Reichskristallnacht-Novemberpogrom, jüdische Mitbürger in Innsbruck ermordet wurden und ihnen viele Kinder, Frauen und Männer in den Tod folgen mussten" steht als Inschrift auf dem Pogromdenkmal

Welche Haltung die Schülerinnen und Schüler in der fünften Klasse des Innsbrucker Gymnasiums Adolf-Pichler-Platz einnehmen, wissen sie ganz genau. Es brauche jedenfalls mehr Verständigung und eine Lösung ohne Waffen, wie sie sagen: „Es gibt in den Darstellungen nur Schwarz und Weiß, aber das ist eigentlich ganz falsch, weil es ist nicht so, dass alle Palästinenser böse sind oder so, also man sollte einfach ein Mittelding finden“, sagt Gabriel.

Für seine Klassenkollegin Anna sei es zwar einfach zu sagen, dass es Frieden brauche – trotzdem: „Ich will einfach, dass die Menschheit irgendwann einmal realisiert, dass Frieden so viel schöner ist als Krieg“, meint sie. Auch für Botschaften wie diese könnte das Gedenken an 85 Jahre Novemberpogrom in Tirol ein Anlass sein.