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Politik

Kinderbildung: Tirol kann von Finnland lernen

Für die Einführung des Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung hat sich ein Teil der Landesregierung Vorzeigebeispiele in Finnland angesehen. Nach einem dreitägigen Aufenthalt in Helsinki kamen die Defizite in Tirol einmal mehr zum Vorschein. Es braucht ein flexibles, flächendeckendes und ganztägiges Angebot in der Kinderbetreuung.

Der hohe Stellenwert von Bildung zeigt sich in Helsinki an vielen Ecken. Ganz besonders sichtbar wird er bei der Oodi Zentralbibliothek. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der finnischen Unabhängigkeit von Russland setzte sich die Stadt 2018 ein einzigartiges Denkmal. Die Bibliothek dient nicht nur als Bücherei, Arbeitsstätte für Co-Working Spaces und sozialer Treffpunkt, sondern auch als öffentliche Lernoase – auch für die Kinderbildung.

Genau diesem Thema galt der Besuch in der finnischen Hauptstadt. Dabei sollten Eindrücke und Erfahrungen für die Einführung des Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung in Tirol gesammelt werden. Laut Regierungsprogramm plant die schwarz-rote Koalition die stufenweise Einführung eines Rechtsanspruchs ab dem vollendeten zweiten Lebensjahr. Das Angebot soll demnach ganztägig, ganzjährig und vor allem leistbar werden.

Finnland Helsinki Oodi Zentralbibliothek
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Die Oodi Zentralbibliothek in Helsinki wurde 2018 eröffnet und gilt als Aushängeschild des finnischen Bildungsgedankens

Die Kinderbetreuung ist in Österreich seit Jahrzehnten ein viel diskutiertes Thema. Während Familien, Sozialpartner und die Wirtschaft schon lange ein besseres Angebot fordern, trat die ÖVP traditionell auf die Bremse. Aus Tirol will die Landesregierung österreichweit „das erste Bundesland“ mit einem Rechtsanspruch machen. Für die konkrete Verankerung in den nächsten Monaten sollte die Delegationsreise nach Finnland die Basis legen.

Mehr Geschlechtergerechtigkeit durch Betreuung

Für drei Tage reisten Landeshauptmann Anton Mattle und die zuständige Landesrätin Cornelia Hagele (beide ÖVP) gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Fachabteilungen des Landes sowie der Arbeiterkammer, des Österreichischen Gewerkschaftsbundes und der Wirtschaftskammer in das nordeuropäische Land. Zwar führten auch Nachbarländer wie Südtirol oder Deutschland bereits einen Rechtsanspruch ein. Dieser gilt dort aber als weniger erfolgreich, hieß es im Vorfeld. Finnland hingegen hat im Bereich Elementarpädagogik schon länger den Ruf als eines der vorbildlichsten Länder weltweit – mehr dazu in Finnland: Vorbild für Tirol bei Kinderbetreuung.

Beim Besuch mehrerer Einrichtungen und in zahlreichen Gesprächen kommt die große Bedeutung, die in Finnland dem frühkindlichen Bildungsbereich beigemessen wird, deutlich zum Vorschein – nicht nur an der oben beschriebenen Oodi Zentralbibliothek. Zum Beispiel erzählte die zuständige Stadträtin Helsinkis, Mirita Saxberg, vom günstigen Angebot.

Finnland Mirita Saxberg
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Mirita Saxberg ist als Stadträtin von Helsinki zuständig für Elementarbildung und profitiert selbst vom Kinderbetreuungsangebot

Dieses trage vor allem zur Gleichstellung von Männern und Frauen bei. „Wir haben viele Fortschritte gemacht, bei der Gerechtigkeit der Geschlechter und vor allem für alleinerziehende Mütter oder geschiedene Frauen ist das Angebot ein riesiger Erfolg", so Saxberg. Es trage daneben auch wesentlich zum Wohlstand der gesamten Bevölkerung bei.

Transparenz-Hinweis
Die Teilnahme an der Delegationsreise nach Finnland erfolgte auf Einladung des Landes. Die Kosten dafür trug der ORF Tirol selbst.

Ohne das finnische Recht auf Kinderbetreuung könnte sie ihren Beruf als Politikerin nicht ausüben, sagt die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Die Kosten für die Betreuungsplätze seien sehr niedrig. In Finnland finanziert der Staat größtenteils die frühkindliche Bildung und Betreuung. Die Gemeinden müssen sie umsetzen und bei Bedarf allen Kindern einen Platz bieten. Die Eltern selbst würden je nach Einkommen maximal 295 Euro für einen Betreuungsplatz zahlen. In der Regel seien es aber deutlich weniger. In Zukunft sollen die Kleinkinder die Betreuung überhaupt gratis erhalten, so das aktuelle Ziel der Stadtpolitikerin.

„Man muss schon auch sagen, dass man trotzdem noch eine Wahlfreiheit hat und entscheiden kann, ob man die Kinder in den ersten Jahren selbst daheim betreuen will oder nicht“, ergänzt sie. Die Eltern bzw. die Erziehungsberechtigten könnten auch Teilzeit arbeiten und so Beruf und Familie mit der Kinderbetreuung vereinbaren. „Gerade bei den ganz Kleinen finde ich das wichtig“, meint Saxberg.

Offene, flexible Lernräume in Kindertagesstätte

Bei einer Führung durch die Bildungseinrichtung Vattuniemi geben die Verantwortlichen Einblick in die moderne Philosophie und das Konzept eines umfassenden Bildungsstandortes. Knapp 800 Kinder im Alter von null bis 12 Jahre gehen hier in die Gesamtschule. In den offenen, hellen und flexibel gestaltbaren Räumen lernen sie teilweise klassen- und altersübergreifend. Das pädagogische Konzept lautet: „Alle Räume sind für alle offen“, so die Schuldirektorin Päivi Hakala.

Finnland Helsinki Senatsplatz
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Der Senatsplatz in Helsinki mit dem evangelischen Dom (rechts) und dem Hauptgebäude der Universität von Helsinki

Inhaltlich steht „phänomenbasiertes Lernen“ im Vordergrund. Zum Beispiel lernen die Kinder in der Vorschule über den Herbst in seinen verschiedenen Facetten – spielerisch, forschend und entdeckend mit digitalen Geräten sowie in Kleingruppen. Dabei sind üblicherweise zwei Erzieherinnen oder Erzieher sowie eine Assistenzkraft involviert.

„Alles hier ist kinderorientiert“, ergänzt Sanna Soini, stellvertretende Leiterin der Kindertagesstätte des Hauses. für jedes Kind werde gemeinsam "Dass sämtliche Beschäftigte stark im Team arbeiten und gemeinsam die Betreuung planen – mit dem Kind im Mittelpunkt – gehört sicher zum Erfolg unseres Systems.“ Vor vier Jahren wurde das Gebäude, das die Kindertagesstätte, die Vorschule und die Gesamtschule unter einem Dach vereint, neu gebaut.

Keine Nachmittagsbetreuung ab dritter Schulstufe

Ab dem neunten Lebensmonat können Kleinkinder hier betreut werden. Das Tagesprogramm wird flexibel gestaltet, ob Sportübungen, Musik oder Zeichnen entscheiden die Kinder selbst. Sie haben mehrere Auswahlmöglichkeiten. Außerdem wird für jedes Kind, zum Beispiel bei den Ein- bis Zweijährigen, in Absprache zwischen den Erzieherinnen und Erziehern gemeinsam mit den Eltern ein individueller frühkindlicher Entwicklungsplan erstellt.

Die Eindrücke und Schilderungen der Expertinnen und Experten wirken wie ein Erfolg, der sich sehen lassen kann. Gleichzeitig wird in der kurzen Zeit des Besuchs auch nur die Oberfläche der Strukturen sichtbar wird. Außerdem ist es äußerst überraschend, dass die flächendeckende Ganztagesbetreuung in der Grundschule lediglich für die Schülerinnen und Schüler der ersten und zweiten Klasse (Alter sieben bis acht Jahre) angeboten wird.

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In der Bildungseinrichtung Vattuniemi werden die Kinder bereits in frühen Jahren in Kleingruppen betreut

Ab der dritten Klasse gibt es keine solche Nachmittagsbetreuung, die direkt in der Schule angeboten wird, sagt die Leiterin der Grundschule. Stattdessen gebe es Hobbys, Arbeitsgruppen oder Clubs. Teilweise würden diese in der Schule stattfinden. Dennoch sind die Eltern dadurch wieder gebunden und müssen die Kinder abholen oder beispielsweise zum Tennisunterricht bringen.

Auch Austausch über Gesundheitsthemen

Nichtsdestotrotz könne man bei Bedarf auf die Tagesbetreuung zurückgreifen. Die Kindertagesstätte öffne so lange es die Eltern brauchen. Die meisten Kinder würden zwischen und 8.00 Uhr und 9.00 Uhr in der Früh kommen und zwischen 16.00 und 17.00 Uhr wieder gehen. In der kommunalen Gemeinschaftsschule sei praktisch alles kostenfrei.

Neben dem Besuch der Bildungseinrichtung Vattuniemi schaute sich die Delegation des Landes auch ein neues Kinderspital an. Darüber hinaus gab es Gespräche mit einem privaten Gesundheitsunternehmen, das etwa Dienstleistungen im Pflegebereich bereitstellt, oder mit einem Professor an der Universität von Helsinki.

Nach den drei Tagen in Helsinki sei klar, dass man in Tirol in manchen Bereichen durchaus mithalten könne, sagte Landeshauptmann Anton Mattle. Bei der ganztägigen Betreuung und beim Angebot für die Unter-Drei-Jährigen sei das nordeuropäische Land aber einiges voraus. Insgesamt brauche es in Tirol viel mehr Flexibilität.

„Müssen Randzeiten nachbessern“

Zum einen betreffe das konkret etwa die Öffnungszeiten und das bedarfsgerechte Angebot. „Zum anderen auch eine Flexibilisierung der Ausbildungswege, so dass wir durchaus auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für diesen so wichtigen Beruf gewinnen können“, so Mattle. Zusätzlich sei eine Flexibilisierung bei der Größe und beim Angebot der Räume notwendig. Vorstellbar sei für ihn etwa eine bessere Abstimmung zwischen betrieblichen und kommunalen Kindergärten und Kindertagesstätten in Tirol.

Landesrätin Cornelia Hagele Landeshauptmann Anton Mattle
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Landesrätin Cornelia Hagele (links) und Landeshauptmann Anton Mattle (beide ÖVP) wollen nach der Studienreise konkrete Maßnahmen für die stufenweise Einführung des Rechtsanspruchs setzen

„Wir haben gesehen, dass speziell in den Randzeiten die Finnen doch etwas besser sind als wir, da sind sie deutlich flexibler“, meinte Landesrätin Hagele. Konkret müsse das zeitliche Angebot bis in den späten Nachmittag, etwa 17.00 Uhr erweitert werden. Das werde auch ein Bereich sein, um das sich das Land kümmern wolle. Auch das Verständnis von Kinderbildung, das in Finnland im Vordergrund ist und den Aspekt der Kinderbetreuung ergänzt, sei sehr wichtig.

Maßnahmen nach Regierungsklausur angekündigt

Am Dienstag will die Landesregierung nach der Regierungsklausur die konkreten Schritte für den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung präsentieren. Dabei muss sie zeigen, dass sie vom Reden ins Handeln kommt und der Besuch in Finnland tatsächlich etwas gebracht hat. Schließlich braucht es hierzulande dringend ein besseres ganztägiges, ganzjähriges und vor allem leistbares Betreuungsangebot, das nicht zuletzt auch den eklatanten Fachkräftemangel abschwächen soll.