Oradour Lager Schwaz Memories of Memories
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Kultur

Oradour: Erinnern an vergessene Geschichte

Während des Zweiten Weltkrieges hat es in Schwaz ein Zwangsarbeiterlager gegeben, aus dem die französische Besatzung nach Kriegsende ein Straflager für ehemalige Nazis machte. Unter dem Namen „Lager Oradour“ sollte es auf ein französisches Dorf mit einer tragischen Geschichte verweisen. In einem neuen Projekt wollen Kultureinrichtungen daran erinnern.

Der Name „Oradour“ erzählt Geschichten von Krieg, Mord, Verantwortung, Vergessen und Erinnern. Ab 1944 befand sich auf der Landstraße zwischen Schwaz und Buch, östlich der „Silberstadt“, ein Zwangsarbeiterlager. Hier waren bis zu 400 ausländische Kriegsgefangene untergebracht. Sie mussten ab Dezember 1944 im Wilhelm-Erb-Stollen des Schwazer Bergwerks für die Rüstungsindustrie des Deutschen Reiches schuften.

Unter unmenschlichen Bedingungen waren die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter teilweise mehrere Tage im Stollen. Sie wurden für die Messerschmitt-Werke, die auch in Kematen in Tirol einen Standort hatten, massiv ausgebeutet. Ziel war die geheime Produktion eines Messerschmitt-Düsenjägers.

Vom Zwangsarbeiterlager zum Straflager für Nazis

Nach der Befreiung 1945 machte die französische Besatzung, die Tirol und Vorarlberg kontrollierte, aus den mit Stacheldraht umzäunten Baracken ein Lager für ehemalige Nationalsozialisten. In der Phase der „Entnazifizierung“ diente das Lager als Ort der „Umerziehung“. In Erinnerung an das französische Dorf Oradour-sur-Glane wurde es „Lager Oradour“ genannt.

Fotostrecke mit 4 Bildern

Lager Oradour Schwaz
(c) Gaston Paris / Bibliothèque historique de la Ville de Paris / Roger-Viollet
Das „Camp Oraodur“ in Schwaz als Entnazifierungslager in Aufnahmen von Gaston Paris nach 1945, mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque historique de la Ville de Paris / Roger-Viollet
Lager Oradour in Schwaz Entnazifizierung
(c) Gaston Paris / Bibliothèque historique de la Ville de Paris / Roger-Viollet
Das „Camp Oraodur“ in Schwaz als Entnazifierungslager in Aufnahmen von Gaston Paris nach 1945, mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque historique de la Ville de Paris / Roger-Viollet
Lager Oradour Schwaz Barackensiedlung
Stadtarchiv Schwaz
Die „Märzensiedlung“ als Armenlager bei Schwaz um 1967
Lager Oradour Schwaz
Stadtarchiv Schwaz
1988 wurde die Barackensiedlung geschleift

Der Hintergrund für diese Namensgebung war eines der brutalsten Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg. Am 10. Juni 1944 fielen Mitglieder der Waffen-SS in der Gemeinde Oradour-sur-Glane im französischen Département Haute-Vienne ein. Sie zerstörten das Dorf, trieben Teile der Bevölkerung in die Kirche und warfen Handgranaten in das verriegelte Gebäude. Andere erschossen sie mit Maschinengewehren. Die Nazis ermordeten fast alle Einwohnerinnen und Einwohner – über 640 Kinder, Frauen und Männer fielen ihnen zum Opfer.

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„Tirol heute“, 5. September 2023, 19.00 Uhr, Erinnerungsprojekt „Memories of Memories“

„Tirol heute“, 6. September 2023, 19.00 Uhr, Lokalaugenschein Oradour-sur-Glane, Frankreich

Der in Paris lebende Fotokünstler Arno Gisinger beschäftigte sich intensiv mit dieser Geschichte. „Die Benennungsgeschichte durch die französischen Befreier und Besatzer ist in doppelter Hinsicht überraschend, weil auch meine französischen Freunde in Oradour-sur-Glane heute eigentlich nichts wussten von dieser Tiroler Geschichte“, sagt Gisinger. Gleichzeitig sei die Benennungsgeschichte des „Lagers Oradour“ in Schwaz ebenfalls nicht mehr im öffentlichen Bewusstsein gewesen.

Was bleibt von der Erinnerung?

Bereits 1995 setzte Gisinger ein Fotoprojekt um, das sowohl den Ort Oradour-sur-Glane in Frankreich als auch die ehemalige „Messerschmitt-Halle“ im Schwazer Bergwerk aufgriff. Auf Initiative von dessen Leiter Thomas Larcher setzte sich das Musikfestival Klangspuren Schwaz auch damit auseinander. Im Herbst 1995 wurden Kompositionen unter anderem vom Bert Breit, Werner Pirchner und Peter Zwetkoff bei den Klangspuren äußerst unkonventionell aufgeführt. In drei einzigartigen Konzerten wurde der mittlerweile nicht mehr zugängliche Wilhelm-Erb-Stollen zur Bühne.

Jetzt im Herbst, knapp 30 Jahre danach, sollen unter dem Titel „Memories of Memories“, also „Erinnerungen von Erinnerungen“, der Name und die Erzählung hinter „Oradour“ wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Zahlreiche Tiroler Kultureinrichtungen fragen, was von damals geblieben ist. So eröffnen sie eine neue Perspektive auf frühere Leerstellen. Zum Beispiel setzt sich die Künstlerin Christine Ljubanović in einem autobiografischen Film mit einem Besuch im Entnazifizierungslager auseinander.

Mehr als nur „die großartige Silberära“

Mit einem neuen Buch rückt der Historiker Horst Schreiber die Geschichte des Lagers in ein neues Licht. Denn das Ende der Besatzungszeit in Österreich bedeutete nicht das Ende der Nutzung des Barackenlagers bei Schwaz. Ab 1948 fungierte es als Unterkunft für Vertriebene und Geflüchtete. Bis 1988 war es als Herberge für ausgegrenzte und ärmere Menschen unter dem Namen „Märzensiedlung“ in der Schwazer Bevölkerung bekannt. So liefert Schreiber die wissenschaftliche Grundlage für ein bisher wohl einzigartiges Vermittlungsprojekt von mehreren Häusern.

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Oradour-sur-Glane Frankreich
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Eindrücke aus der Gedenkstätte im zerstörten Dorf Oradour-sur-Glane in Frankreich
Oradour-sur-Glane Memories of Memories
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Eindrücke aus der Gedenkstätte im zerstörten Dorf Oradour-sur-Glane in Frankreich
Oradour-sur-Glane Memories of Memories
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Eindrücke aus der Gedenkstätte im zerstörten Dorf Oradour-sur-Glane in Frankreich

Zum Beispiel sind das Rabalderhaus in Schwaz mit einer Fotoausstellung, einer Buchpräsentation und einer Diskussionsveranstaltung, die Klangspuren mit zwei Jubiläumskonzerten, der Kunstraum Schwaz und auch das Museum der Völker beteiligt. Daran zu erinnern, sei enorm wichtig, meint Lisa Noggler-Gürtler, Leiterin des Museums der Völker.

Schließlich handle es sich um eine lange verdrängte und weitgehend vergessene Geschichte. Seit 2015 gibt es zwar eine Gedenkstele auf dem ehemaligen Lagergelände neben der Alten Landstraße. Doch es gehe darum, die Erzählung über den Ort, „der immer über das ‚tolle Silberbergwerk und die großartige Silberära‘“ definiert werde, zu erweitern. Das Lager Oradour, die Verknüpfung zu Frankreich oder die Nachnutzung des Areals seien zwar Teil von individuellen Geschichten. Es gebe aber keine gemeinsame Erinnerung daran.

„Erinnern schafft Handlungsspielräume“

„Mir geht es nicht darum, dass man mit dem Finger darauf hinzeigt, sondern mir geht es darum, dass das Erinnern etwas mit uns tut“, meint Noggler-Gürtler. Alles, woran erinnert werde, bedeute, sich zu überlegen, wie man heutzutage handeln könne. „Ich würde meine Handlungsspielräume anders ausloten, wenn ich mich an etwas erinnere, und etwas zu verdrängen ist sowieso nie eine gute Geschichte“, so die Museumsleiterin.

Lager Oradour Ferdinandeum Innsbruck
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Eine Stahlkonstruktion vermittelt vor dem Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck die Geschichte rund um Oradour

Konkret ist im Schwazer Museum der Völker etwa eine Fotoausstellung des Künstlers Gregor Sailer zu sehen. Er dokumentierte die Messerschmitt-Halle im Schwazer Bergwerk und ermöglicht einen neuen Blick darauf. Über die Fotografien und die Objekte wolle das Museum mit der Schwazer Bevölkerung in einen Dialog treten – und so einen anderen Teil der lokalen Geschichte vermitteln.

Ferdinandeum geht „raus aus Komfortzone“

Erinnern wollen neben den Schwazer Einrichtungen auch die Tiroler Landesmuseen. Der Leiter der Bibliothek des Ferdinandeums, Roland Sila, koordinierte das überregionale Vermittlungsprojekt. Vor dem Ferdinandeum wird in der Innsbrucker Museumstraße ab Donnerstag eine überdimensionale Stahlkonstruktion zu sehen sein.

Studierende vom Institut für Gestaltung der Universität Innsbruck entwarfen und errichteten eine barackenähnliche Figur. Dafür verarbeiteten sie 12,5 Kilometer Stahl bzw. 5,6 Tonnen Material. An deren Außen- und Innenseiten werden frühere Fotoaufnahmen von Arno Gisinger aus Oradour-sur-Glane und ein neues Projekt aus Oradour in Schwaz ausgestellt. Ergänzend dazu wird die Geschichte der beiden Orte erzählt.

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Oradour Lisa Noggler-Gürtler Museum der Völker Schwaz
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Lisa Noggler-Gürtler leitet das Museum der Völker in Schwaz
Oradour Roland Sila Tiroler Landesmuseen Ferdinandeum
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Roland Sila koordinierte als Projektleiter die verschiedenen Kultureinrichtungen im Rahmen von „Memories of Memories“
Arno Gisinger, Lager Oradour
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Arno Gisinger setzte sich 1995 und 2023 in mehreren Fotoprojekten mit Oradour-sur-Glane in Frankreich und dem Lager Oradour in Schwaz auseinander
Thomas Larcher Lager Oradour Klangspuren
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Thomas Larcher initiierte 1995 sowie 2018 die Vermittlungsprojekte rund um das Lager Oradour in Schwaz

„Für uns als Museum ist es ganz entscheidend, in den öffentlichen Raum hinauszugehen, sich aus der Komfortzone Museum hinauszubewegen und ins Gespräch mit den Menschen zu kommen“, so Roland Sila. Er erhoffe sich dadurch eine Diskussion mit der Gesellschaft über die Frage, wie Erinnerung heute sinnvoll in die Gesellschaft getragen werden kann.

Austausch von Schülerinnen und Schülern geplant

Insgesamt müsse man die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpfen, ist Noggler-Gürtler überzeugt. „Das Problem ist, solange wir politische Aufmärsche oder Plakate haben, wo Menschen rassistisch ausgegrenzt werden, solange wir einen bewaffneten Polizisten brauchen, um vor einer jüdischen Synagoge Dienst zu machen, haben wir alle etwas damit zu tun, weil es ist genau die gleiche Geschichte“, sagt sie zur Relevanz eines derartigen Projekts.

Laut Gisinger müsse man dabei insbesondere auch an zukünftige Generationen denken. In enger Abstimmung mit der Gedenkstätte Oradour-sur-Glane sei die Idee für einen Austausch von Schülerinnen und Schülern zwischen Schwaz und Frankreich aufgekommen. „Weil ich glaube, dass es vor allem um die europäische Jugend geht in diesem Projekt und natürlich um die Frage des Krieges, wie auch mit den Kriegen in unserer näheren Umgebung spürbar ist“, verweist er auch auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.

Buchtipp

In seinem Buch „Die Lager von Schwaz. 1944 – 1988“ (Studienverlag) arbeitete der Historiker Horst Schreiber die Entwicklung vom Zwangsarbeiterlager zum Entnazifizierungslager Oradour bis zur Flüchtlings- und Armensiedlung auf.

Die Idee eines Austauschs von Schülerinnen und Schülern wäre für ihn die ideale Möglichkeit, um zu zeigen, was in Schwaz passiert ist, aber auch von hier aus nach Frankreich zu gehen, um zu sehen, warum der Ort in Tirol „Oradour“ benannt wurde. „So könnten die beiden Oradour auf der Ebene der Jugend miteinander verbunden werden“, so Gisinger.

Mehr als eine Reihe von Ausstellungen

So spannen der Name und der Ort „Oradour“ in einer einzigartigen Zusammenarbeit von mehreren Institutionen aus Forschung, Kunst und Kultur einen Bogen zwischen Frankreich und Tirol. Bis Jänner 2024 reicht das umfangreiche Vermittlungsprogramm, das am 7. September in Schwaz und Innsbruck startet.

In Summe ist es ein in dieser Form wohl noch nie da gewesenes Kooperationsprojekt. Gleichzeitig geht es darüber noch deutlich hinaus, sagt Initiator Thomas Larcher: „Für mich ist diese Unternehmung viel mehr als eine Ansammlung von Ausstellungen und Kommentaren zum Thema Oradour, für mich ist es vor allem und zuerst einmal ein Gedenken an all jene Menschen, die versklavt, entrechtet und ermordet wurden.“