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Bildung

„Fall Larcher“: 50 Jahre Tiroler Schulskandal

Es war eine Affäre, die auch über Tirol hinaus Wellen geschlagen hat: der „Fall Larcher“. Kurz vor den Sommerferien 1973 will Agnes Larcher mit ihren Schülerinnen in der Hauptschule Absam Theaterstücke behandeln. Doch dazu kommt es nicht mehr. Wegen der umstrittenen Texte wird die Lehrerin fristlos entlassen, was einen heftigen Kulturkampf auslöst.

Vor genau 50 Jahren nimmt der „Fall Larcher“ in der Hauptschule des Wallfahrtsortes Absam (Bezirk Innsbruck-Land) seinen Ausgang. Am Samstag, den 2. Juni 1973, teilt Agnes Larcher den Schülerinnen im Deutschunterricht Kopien aus. Es sind die Theaterstücke „Stallerhof“ und „Geisterbahn“ des bayrischen Schriftstellers Franz Xaver Kroetz. Die Lehrerin will die Texte in der darauffolgenden Woche behandeln. Ihr Unterrichtsprojekt kann sie jedoch nicht umsetzen.

Silvia Munter war damals eine von Larchers Schülerinnen der 4. Klasse. Im Interview mit dem ORF Tirol erzählt sie von den Ereignissen nach dem Schultag, an dem sie die Kopien erhielten. „Ich kann mich genau erinnern, ich bin nach Hause gekommen und habe mich auf die Bank vor dem Haus gesetzt und habe zu lesen begonnen“, sagt Munter. Über das Wochenende habe sich etwas zusammengebraut. „Und plötzlich war alles anders, unsere Lehrerin war nicht mehr da, sie hat nicht mehr unterrichten dürfen.“ Die Klasse sei sehr empört gewesen, denn für sie war es „ganz schlimm“.

Lehrerin habe sich „schuldig gemacht“

Der Plan, die Theaterstücke zu lesen, wurde dem Direktor der Hauptschule gemeldet. Am Montag, dem 4. Juni, interveniert er, sammelt die Texte ein und suspendiert die 36-jährige Lehrerin. Zwei Tage später wird sie zum Landesschulrat bestellt. Dort erhält sie offiziell ihre fristlose Entlassung. Als Grund wird angegeben, dass „sie sich durch die entgeltliche Weitergabe von nicht entwicklungsgemäßem und nicht approbiertem Lesegut an Schüler“ einer „besonders schweren Verletzung der Dienstpflichten schuldig gemacht“ habe. Aus Sicht der Schulbehörde sind die Texte „unsittlich“ und „schädlich“.

Silvia Munter Fall Agnes Larcher
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Bei der Schülerin Silvia Munter löste die Entlassung der Lehrerin Agnes Larcher damals eine große Betroffenheit aus

Tatsächlich erzählen Kroetz’ Werke hautnah und authentisch von Sexualität, Behinderung und sozialen Außenseitern. Sie spielen am „Stallerhof“ in einem armen, bäuerlichen Milieu. Die im bayrischen Dialekt gehaltenen Dialoge und Schilderungen greifen Tabuthemen der damaligen Zeit in einer ungeschönten Sprache auf. Doch Agnes Larcher sei es nicht darum gegangen, sexuelle Tabus zu brechen, meint ihr verwitweter Ehemann und Erziehungswissenschaftler Dietmar Larcher.

Hinweis:

Der Historiker Horst Schreiber behandelt den „Fall Larcher“ in seinem Aufsatz „Es entspricht der Mentalität des freiheitsliebenden Tirolers, immer klar Farbe zu bekennen.“ Zur Geschichte, Struktur und Entwicklung der Tiroler Schule 1945-1998.
Der Text ist zu finden in: „Tirol. Land im Gebirge“ (1999), herausgegeben von Michael Gehler, S. 487-568.

„Ihr war wichtig, zu zeigen, wie die Menschen am Rand der Gesellschaft verdrängt und ausgeschlossen werden“, sagt er. „Wie sie keine Chance haben, wie man ihnen alles nimmt, was den Sinn ihres Lebens ergeben könnte, wie man sie geradezu zwingt in eine Situation, dass sie sich selber niemals emanzipieren können von ihrem Los.“ Das habe sie mit dem Theaterstück aufzeigen wollen.

Von der Entlassung zum Schulskandal

Schülerinnen wie Silvia Munter, damals 14 Jahre alt, begeisterte der Text – trotz oder gerade wegen der authentischen und unverfälschten Darstellung. „Es war einfach realitätsnah, man hat sich vorstellen können, dass das stattfindet, wahrscheinlich auch bei uns im Dorf“, meint sie. Mit den Akteuren im Stück habe man Mitleid gehabt. „Es wäre alles diskussionswürdig gewesen, aber wir sind dann alleine dagestanden, niemand hat mit uns darüber gesprochen“, so Munter.

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„Stallerhof“ Franz Xaver Kroetz Fall Agnes Larcher
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Agnes Larcher wollte die Theaterstücke „Stallerhof“ und „Geisterbahn“ von Franz Xaver Kroetz im Deutschunterricht behandeln
„Stallerhof“ Franz Xaver Kroetz Fall Agnes Larcher
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Die authentischen und schonungslosen Darstellungen von Sexualität, sozialer Ausgrenzung und Behinderung im ärmlichen bäuerlichen Leben waren aus Sicht der Schulbehörden schädlich für die Schülerinnen
„Stallerhof“ Franz Xaver Kroetz Fall Agnes Larcher
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Die authentischen und schonungslosen Darstellungen von Sexualität, sozialer Ausgrenzung und Behinderung im ärmlichen bäuerlichen Leben waren aus Sicht der Schulbehörden schädlich für die Schülerinnen
„Stallerhof“ Franz Xaver Kroetz Fall Agnes Larcher
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Die authentischen und schonungslosen Darstellungen von Sexualität, sozialer Ausgrenzung und Behinderung im ärmlichen bäuerlichen Leben waren aus Sicht der Schulbehörden schädlich für die Schülerinnen

Im Gasthof Kirchenwirt in Absam kommt es zu einem Elternabend. Hier nehmen die kontroversen Diskussionen ihren Ausgang. Heutzutage ist in dem Gebäude das Gemeindemuseum Absam untergebracht. Dessen Leiter, Matthias Breit, beschäftigte sich intensiv mit dem „Fall Larcher“. Unter anderem dokumentierte er den Vorfall und gestaltete einen Podcast. Darin rollt er die Ereignisse detailliert auf.

Die Schülerinnen selbst stellen sich größtenteils hinter ihre Lehrerin. Ein Hauch von Widerstand regt sich. „Da gab es gleich ein paar, die für sie streiken wollten. Damals war Streik irgendwie so ein eher modernes Ausdrucksmittel“, erinnert sich Munter. Die Idee sei dann zum Direktor vorgedrungen und mehr oder weniger untersagt worden. „Es hat geheißen, ‚Ihr macht keinen Streik, ihr braucht ein gutes Zeugnis und ihr geht weiter in die Schule, es würde sich wahrscheinlich in den Noten niederschlagen‘.“ Auch die Eltern hätten Ruhe in die Sache bringen wollen.

Kulturkampf mit „Einheit von Thron und Altar“

Innerhalb weniger Wochen werden die Entlassung und das Vorgehen der Schulbehörde des Landes Tirol in der breiteren Öffentlichkeit bekannt. Nicht nur hierzulande, sondern auch darüber hinaus in Wien oder Hamburg greifen Medien das Thema auf. „Mein Ziel war es, dass dieser Vorfall ein Echo hat, dass es nur so rauscht“, sagt Dietmar Larcher. Ihm sei es wichtig gewesen, diese aus seiner Sicht ungerechte Maßnahme aufzuzeigen.

Zum Beispiel schreibt das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ am 1. Juli unter dem Titel „Sünde und Schande“: „Die Tiroler waren gar nicht lustig. (…) So hat sich das gesunde Volksempfinden des moderner Kunst traditionell abholden Alpenlandes wieder einmal gerührt – in Gestalt der Tiroler Unterrichts-Behörde.“ Daneben nahmen mehrere Wissenschaftler und Intellektuelle zu dem Fall Stellung, etwa der Theologe Karl Rahner oder der Schriftsteller Heinrich Böll. Sie stellten sich gegen die Entlassung und sprachen sich für Kroetz’ Theaterstücke aus.

Dietmar Larcher
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Der Ehemann von Agnes Larcher, Dietmar Larcher, trug dazu bei, die Entlassung seiner Frau in die breite Öffentlichkeit zu bringen

Andererseits gab es auch Erziehungswissenschaftler oder Psychologen, welche die Theaterstücke stark ablehnten. Sie empfanden sie als nicht förderlich für die Jugendlichen. Auch Teile der Landespolitik, insbesondere der ÖVP, sowie der Innsbrucker Bischof Paulus Rusch hätten die Literatur scharf verurteilt, sagt Dietmar Larcher: „Eine Einheit von Thron und Altar stellte sich gegen uns, nicht nur die Spitzen der Landespolitik sondern auch der Bischof, der hat geradezu mit einem Maschinengewehr auf meine Frau geschossen.“ Er habe einen Hirtenbrief erlassen und die „Erziehung zu Schwachsinn, Perversion und Kommunismus“ kritisiert, so Larcher.

Ein Hauch von 1968 in Tirol

Es bricht ein regelrechter Kulturkampf aus. Dietmar und Agnes Larcher erhalten zahlreiche Reaktionen und Zuschriften. Sie spüren Solidarität, aber bekommen auch Gegenwind in Form von Hassbotschaften. Laut Larcher sei die Tiroler Gesellschaft Anfang der 1970er Jahre von einem „ungeheuer konservativen Gesellschaftsbild dominiert“ gewesen. „Die Angst war riesengroß, dass das, was in Deutschland und Frankreich passiert, die Kulturrevolution von 1968, womöglich über die Grenzen schwappt und in Tirol an Einfluss gewinnt“, erzählt er rückblickend. Was auf der Bildungsebene ausgetragen wird, ist für ihn in Wahrheit ein „Abwehrkampf gegen Modernisierung“.

Dabei verfolgt Agnes Larcher damals innovative Unterrichtskonzepte, freie Lehrformen wie entdeckendes Lernen oder Projektunterricht. Doch das sei im Jahr 1973 noch weitgehend unerwünscht. „Erziehung heißt ‚top-down‘, also berieseln von oben herab, es bedeutet beibringen, auswendig lernen und abprüfen“, fasst er den pädagogischen Zeitgeist zusammen. Seine Frau will das nicht akzeptieren und für Veränderung sorgen.

Gasthof Kirchenwirt Absam Gemeindemuseum Absam
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Im Gasthof Kirchenwirt, heute Heimstätte des Gemeindemuseums Absam, kommt es nach der Entlassung zu einem Elternabend

In einem Fernsehbeitrag der ORF-Sendung „Querschnitte“ vom 4. Juli 1973 schildert sie ihr Berufsverständnis: „Ich glaube, ich habe als Lehrer die Pflicht, nicht an den Problemen der Gegenwart vorbei zu sehen. Ich habe die Pflicht, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern die Jugend auf das Leben, das auf sie zukommt, vorzubereiten.“ Das war ihre Überzeugung und dafür kämpfte sie weiter.

Vom Bergbauernkind zur „Frau Doktor“

Nach einem gerichtlichen Vergleich darf sie später wieder unterrichten. Sie kommt zuerst in einer Bundesschule in Hall in Tirol unter. Später zieht sie mit ihrem Ehemann weg von Tirol, weil er an einer anderen Universität eine Stelle bekommt. Ihre eigene Karriere und ihr Lebensweg sind hingegen alles andere als selbstverständlich und vorgegeben. Agnes Larcher wird 1937 in Mühlbach in Südtirol als viertes von 13 Kindern geboren. Sie stammt aus einer Bergbauernfamilie aus Meransen.

Es sei völlig undenkbar gewesen, dass sie jemals eine akademische Karriere macht, meint ihr späterer Ehemann Dietmar: „Sie hätte Magd werden sollen, das war ihr Schicksal.“ Sie habe auch trainieren gehen müssen. „Als Achtjährige wurde sie von Zuhause verschickt, musste auf anderen Bauernhöfen bei größeren Bauern das Vieh hüten und ähnlich schwere Arbeiten verrichten.“

Agnes Larcher Bergbauernhof Mersansen Südtirol
Gemeindemuseum Absam
Agnes Larcher (2. v.l.) wuchs auf einem Bergbauernhof in Meransen in Südtirol auf und arbeitete in der Landwirtschaft

Doch sie habe Glück gehabt. Ein Priester habe bei einer Religionsprüfung ihr Talent und ihr Wissen erkannt und sie gefördert. So kann sie neben der bäuerlichen Arbeit weiter zur Schule gehen. Schließlich studiert sie an der Universität Innsbruck Deutsch und Geschichte. Sie absolviert ein Doktoratsstudium und lernt ihren späteren Ehemann kennen. Über verschiedene berufliche Stationen landet sie in der Hauptschule Absam. Insofern verarbeitet sie dort mit der Lektüre von „Stallerhof“ und „Geisterbahn“ auch ihre eigene Lebensgeschichte. Doch das wird ihr dann zum Verhängnis.

Was bleibt 50 Jahre danach?

Für das Ehepaar Larcher sei der gesamte Vorfall mit allem, was danach kam, eine große Belastung gewesen, sagt er. Später habe sie irgendwann angefangen, es zu verdrängen. Dietmar Larcher fällt es nicht leicht, darüber zu sprechen. „Es ist ganz unangenehm, man sieht auch die eigenen Schwächen und Fehler und denkt sich, ganz klug war das nicht und man hätte es auch anders lösen können“, zeigt er sich selbstkritisch. Er habe keineswegs alles richtig gemacht.

Als Episode der Tiroler Zeitgeschichte zeige der „Fall Larcher“, dass die Machthabenden einen Druck gespürt hätten. „Der Wind der Veränderung wurde irgendwo schon merkbar und die politische Macht im Land hat Strategien entwickelt, um jede Veränderung fernzuhalten und den Status quo aufrechtzuerhalten“, meint er. Insgesamt habe sich Tirol damals in einem „vormodernen Zustand“ befunden. Die „kulturell verpönten Dinge“ seien verdrängt worden, Diskussion sei kaum möglich gewesen.

Außerordentliche Lehrerin in Erinnerung

Auf die Frage, was man für die Gegenwart daraus lernen könne, antwortet er: „Nur eine offene Demokratie, die auch in ihren Institutionen als Demokratie gelebt wird, kann verhindern, dass solche kuriosen Fälle wie dieser sich wiederholen.“ Allein eine Lösung in der gemeinsamen Diskussion und im Austausch miteinander könne so eine „Katastrophe“ vermeiden.

Agnes Larcher, „Querschnitte“ 1973
ORF Archiv/"Querschnitte"
In einem ORF-Fernsehinterview erzählte Agnes Larcher im Sommer 1973 von ihrer Entlassung und ihren pädagogischen Absichten

Die ehemalige Schülerin, Silvia Munter, ist überzeugt, dass so etwas in der heutigen Zeit in dieser Form nicht mehr möglich wäre. Jemanden in der Schule einfach so abzusetzen und vor allem, die Schüler so im Regen stehen zu lassen, könne sie sich nicht vorstellen. Unabhängig vom „Fall Larcher“ bleibt Munter vor allem die Lehrerin und der Mensch dahinter in Erinnerung. „Die Frau Doktor Larcher war als Lehrerin so einmalig. Mir ist später im Leben nie mehr so ein engagierter Lehrer begegnet und ich bin echt dankbar, dass ich sie genießen konnte“, meint sie. Die Familie Larcher lebte später in Wien. Dort setzte Agnes weitere pädagogische und historische Projekte um und verfasste selbst Bücher. Sie starb im Jahr 2012.