Die erste Begegnung in Innsbruck war ein Zufall. In einem roten Kostüm und mit roten Lackschuhen saß die damals 93-jährige Maria-Luise Regensburger auf einer Parkbank am Inn und rastete sich von ihrem Spaziergang aus. Die auffällige Eleganz der alten Dame zog den Fotografen Thomas Schrott an, die beiden kamen ins Gespräch.
Regensburger reagierte anfangs skeptisch auf die Frage, ob der Fotograf Aufnahmen von ihr machen dürfe. Zu viele Horrormeldungen hatte die alte Dame im Kopf. Doch nach mehreren Treffen und einigen guten Gesprächen ließ sie sich auf das Abenteuer ein.
Keine inszenierten Bilder
„Eigentlich habe ich mich nie gerne fotografieren lassen. Doch die Ernsthaftigkeit und die Professionalität von Thomas Schrott haben mich überzeugt“, sagt Regensburger.
„Wir machen keine gestellten Aufnahmen. Das hat er mir gleich gesagt, und ich war sehr froh darüber. So musste ich keine Posen einstudieren und kein künstliches Lächeln üben. Ich habe mich zu Hause hingestellt oder wir sind in den Park gegangen. Das war dann auch eine Sensation für die Umwelt. Alle haben geschaut, was wir da machen.“
Gepflegtes Auftreten
„Ich will immer schön aussehen, wenn ich das Haus verlasse“, sagt die 96-jährige Grande Dame, die früher als Lehrerin, Chorleiterin und Organistin gearbeitet hat. „Das habe ich von zu Hause so mitbekommen, dass man sich beim Hinausgehen schön anzieht. Das tun viele alte Menschen offenbar nicht mehr. Ich bekomme immer einen Strauß von Komplimenten, wenn ich in meinem roten Kostüm und den dazu passenden roten Lackschuhen unterwegs bin.“
Das lange Leben ins Gesicht gezeichnet
Thomas Schrott ist für die Tiroler Straßenzeitung „Der Zwanzger“ immer auf der Suche nach außergewöhnlichen Menschen, um sie zu porträtieren. Dem mehrfach ausgezeichneten Fotografen geht es dabei um Natürlichkeit. Die meisten Aufnahmen für das neue Fotobuch sind bei Tageslicht ohne Blitz und ohne Stativ entstanden. Seinen Stil bezeichnet er als dokumentarische Realität, eine Mischung aus Beobachtung und behutsamen Eingriffen.
Kleider erzählen Geschichten
Die Musikliebhaberin Maria-Luise Regensburger besuchte früher regelmäßig verschiedene Festspiele. Ihre prächtigen Gewänder aus edlen Stoffen und die dazu passenden, farblich abgestimmten Handtaschen sind immer noch griffbereit im fünftürigen Spiegelschrank verwahrt.
Für das Foto-Shooting hat sich die am Innsbrucker Konservatorium ausgebildete Schauspielerin und Mezzosopranistin noch einmal lustvoll in Schale geworfen. Die Fotos zeigen den Genuss der alten Dame.
Ein weißes Spitzennachthemd als Todesgewand
Auch für „die Zeit danach“ hat die reflektierte Intellektuelle vorgesorgt. Ein zartes, weißes Spitzennachthemd liegt bereit. „Das soll mir meine Tochter anziehen, wenn ich in die Anatomie gebracht werde“ sagt die 96-Jährige mit fester Stimme aber mit glänzenden Augen. Auch eine Rede hat sie schon geschrieben und persönlich ins Mikrofon gesprochen. Die Aufnahme soll dann bei der Beerdigungsfeier in der Aufbahrungshalle zur hören sein.
Ohne Disziplin wird man nicht alt
Aus der Kirche ist die Frau, die in einem erzkatholischen Elternhaus im Tiroler Oberland aufwuchs, schon lange ausgetreten. Doch der bereits verstorbene Innsbrucker Altbischof Reinhold Stecher, der habe sie als Mensch und Gesprächspartner fasziniert. Sein gerahmtes Foto steht auf dem Beistelltisch im Erker ihrer Innsbrucker Wohnung.
Frau Regensburger integriert den Altbischof in ihre täglichen Meditationen. Kurz vor seinem Tod habe er ihr versprochen, sie „hinüber“ zu begleiten, wenn es einmal so weit sei. Sie habe keine Angst vor dem Tod, sagt Regensburger, aber vor dem Sterbevorgang hätte sie schon Respekt. Der Gedanke, Bischof Stecher wäre dann als geistiger Begleiter an ihrer Seite, beruhige sie.
„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding…“
Ihr Lehrer in der Opernklasse am Konservatorium ließ sie in jungen Jahren immer wieder die Arie der Gräfin „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding…“ aus der Oper „Der Rosenkavalier“ vortragen. Als junge Frau hätte sie den Text der alternden Frau, die Abschied nimmt, noch nicht richtig verstanden.
Heute könnte sie diese Arie überzeugend vortragen, wenn sie noch eine Stimme hätte, sagt die 96-Jährige und rezitiert den Text. Das Klavierspielen klappt noch besser. Die ehemalige Organistin intoniert souverän „Die Träumerei“ von Robert Schuhmann.
Kein Botox und kein Instagram
An eine Schönheitsoperation habe sie nie gedacht. Wahre Schönheit komme von innen, ist Regensburger überzeugt. Wenn sich junge Menschen heute in sozialen Medien mit Filtern perfekt inszenieren, dann sei das reine Maskerade, kritisiert die ehemalige Lehrerin. Schönheit entstehe ihrer Meinung nach durch Ausstrahlung, Geistigkeit und Gefühlsreichtum.
Keine Romantik und kein Voyeurismus
Frei nach Picasso habe er die alte Dame gefunden ohne sie zu suchen, sagt der Fotograf Thomas Schrott. Sie hätten sich langsam aneinander gewöhnt. Die Bilder erzählen von Vertrautheit und Wertschätzung. Schrott verzichtet auf Voyeurismus. Er will das Alter aber auch nicht verklären.
So hat er ein Foto von einem Sturz der alten Dame inszeniert und in die Bilderzählung aufgenommen. Für ihn sei die Zusammenarbeit mit Frau Regensburger auch ein „Memento Mori“, sagt Schrott. „Wir sind nicht unsterblich und sollten etwas aus unserem Leben machen“, resümiert der Fotokünstler.
Therapie ohne Therapeut
Das Leben der im Jahr 1926 Geborenen war nicht immer einfach. Nach dem Scheitern ihrer Ehe zog sie ihre Tochter im Tirol der 1960er Jahre alleine groß. Einige Tiefpunkte klopfte sie später in die Schreibmaschine. Das Zettelkonvolut warf sie dann von der Brücke in den Inn. Das sei eine große Befreiung für sie gewesen, verrät Regensburger. Es sei eines ihrer Rezepte für ihre positive Sicht auf die Welt.
Innerhalb von drei Jahren hat Thomas Schrott mehr als 700 gute Fotos aufgenommen. Dann hatte er die Qual der Wahl, reduzierte und ordnete sie ohne Chronologie zu einer Bildererzählung. Die Geschichte beginnt und endet mit den Händen der Organistin. Die alte Dame auf der Schaukel im zartrosa Kleid vermittelt Leichtigkeit. Die entblößte Schulter mit der faltigen Haut glänzt im Abendlicht. Ein Bild ergibt das andere und jedes erzählt eine Geschichte.
Das Alter kann schön sein
„Mein Leben verläuft heute in Stille aber nicht in Einsamkeit. Ich habe meine Bücher, ich habe mein Denken und ich habe meine Natur, wenn ich aus dem Erkerfenster auf die umliegenden Berge blicke. Ich bin nie einsam, aber ich freue mich auch, wenn ich Besuch bekomme!“