Lawinenanbruch mit Rudi Mair
Lawinenwarndienst Tirol
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Wissenschaft

Neuer Blick in das Innere von Lawinen

Sensoren, die mit einer Lawine talwärts rasen, sollen neue Einblicke in das Innenleben einer Lawine geben. Die Ergebnisse könnten unter anderem die Suche von Verschütteten verbessern und auch Grundlage für Verbesserungen von Lawinenairbags sein.

Auf der Innsbrucker Nordkette werden im Winter regelmäßig Lawinen abgesprengt. Das will sich das Projekt „AvaRange: Objektverfolgung in Schneelawinen“ zunutze machen. Durchgeführt wird es vom Bundesforschungszentrum für Wald (BFW) gemeinsam mit Forschungspartnern und unterstützt vom Wissenschaftsfonds FWF und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Seilbahnrinne in der Nordkette im Winter
Jan-Thomas Fischer/BFW
Das Projekt nutzt die häufigen Lawinensprengungen in der Nordkette

Jan-Thomas Fischer und seine Kolleginnen und Kollegen vom Institut für Naturgefahren des BFW in Innsbruck wollen mit diesem neuen Blick in die Lawine Laborexperimente und Computersimulationen ergänzen und damit auch zu mehr Sicherheit im Wintersport beitragen.

Jan Thomas Fischer mit Lawinensensor
ORF/Wolfgang Böhmer
Jan-Thomas Fischer mit einem Lawinensensor

Ihren Blick richten sie dabei nicht auf große Katastrophenlawinen, sondern auf kleinere Lawinen, die vor allem für Wintersportler relevant sind. In diesem Bereich sind laut Fischer die Simulationswerkzeuge noch weniger ausgereift. Ihre Verbesserung könnte beispielweise helfen, Schutzbauten richtig zu positionieren und zu dimensionieren sowie den wahrscheinlichsten Verschüttungsort von Lawinenopfern im Lawinenkegel zu bestimmen.

Technik ähnlich der in modernen Smartphones

Bei der Ausgestaltung der Sensortechnik arbeiten Fischer und sein Team mit Expertinnen und Experten der Universität Innsbruck und der TU Berlin zusammen. „Die Technologie, die wir nutzen, entspricht in etwa jener, die auch in einem fortgeschrittenen Smartphone verbaut ist. Dazu gehören Elemente zur genauen Positionierung mittels Satellitennavigationssystemen, Beschleunigungsmesser oder Gyroskopen, die die Lage der Sensormodule im Raum bestimmen, oder Sensoren, die die Temperaturentwicklung genau vermessen können“, sagte Fischer.

Sensorik und Elektronik sind in stabilen Hüllen aus dem 3-D-Drucker verpackt
Jan-Thomas Fischer/BFW
Die Sensoren werden in eine robuste Hülle verpackt

Sensoren sollen auch untereinander in Kontakt sein

Einer der wichtigsten Punkte ist die Konnektivität. Die Sensoreinheiten sollen nicht nur Kontakt zu Messpunkten außerhalb der Lawinen, sondern in einer fortgeschrittenen Entwicklungsstufe auch zu ihren Pendants innerhalb der bewegten Schneemasse herstellen können. Mehrere Sensoreinheiten sollen dabei ein gemeinsames Netzwerk bilden und per Funkabstandsmessung kontinuierlich ihre relativen Positionen bestimmen. Verpackt werden Sensorik und Elektronik in stabilen Hüllen aus dem 3-D-Drucker, die den extremen Bedingungen innerhalb der Lawinen standhalten müssen.

Die Bewegung der Sensorelemente innerhalb der Schneemassen verläuft naturgemäß äußerst chaotisch. Sie drehen sich, schlagen gegen Felsen, bewegen sich an der Oberfläche und werden tief in der Lawine vergraben. „Diese Bewegungen nachzuvollziehen ist relativ schwierig und bedarf einer ausgeklügelten Verknüpfung der Sensordaten“, sagte Fischer. Im Projekt wird unter anderem die Nutzung von eigenen Machine-Learning-Algorithmen geprüft, die die komplexen Daten vereinfachen, analysieren und filtern.

Größere Klumpen befinden sich in einer Lawine eher oben

Von den Bewegungsabläufen lässt sich schließlich auf eine Reihe innerer Eigenschaften von Lawinen schließen. Dazu gehört etwa jenes Phänomen, das der BFW-Forscher inverse Segregation nennt. Der Begriff verweist auf die Bildung von Schneepartikeln und -klumpen in verschiedenen Größen, wobei sich die größeren Teile mit der Bewegung tendenziell nach oben sortieren – ein Phänomen, das auch von den erwähnten Lawinenairbags genutzt wird. Doch das ist kein einfacher linearer Zusammenhang.

Lawinensensor
ORF/Wolfgang Böhmer
Blick in das Innenleben eines Sensors

„Die tatsächliche Bewegung der Schneegebilde innerhalb der Lawine hängt von vielen Faktoren ab. Dazu gehört nicht nur die Größe der Teile, sondern etwa auch ihre Dichte und ihre genaue Form“, erklärte Fischer. „Wir wollen herausfinden, in welcher Weise diese Eigenschaften das Fließen der Schneepartikel in der Lawine beeinflussen und bestimmen.“ Mit dieser Untersuchung baut man unter anderem auf Laborexperimenten auf, in denen bereits sehr gut gezeigt werden konnte, wie die Formen und Größen der kompakten Schneeteile innerhalb der Lawinen überhaupt entstehen.

Teil eines neuen Simulationswerkzeugs

Die Erkenntnisse über das Innenleben der Lawinen, die die Forschenden in ihrem Projekt schaffen, werden schließlich auch Teil eines neuen Simulationswerkzeuges, das für die Wissenschaftscommunity frei verfügbar sein wird. Dieses Tool soll dann auch die Entstehung und Bewegung der Partikel mit hoher Genauigkeit abbilden können.

Natürlich auftretende Lawinenereignisse sind selten und schwer zu beobachten. Entsprechend herausfordernd ist es, mehrere Lawinenereignisse mit vergleichbaren Rahmenbedingungen zu finden und reproduzierbare Ergebnisse zu erzielen. Die Innsbrucker Forschenden kooperieren deshalb mit dem Skigebiet Nordkette, wo bei entsprechender Schneelage regelmäßig Lawinensprengungen durchgeführt werden.