Für die Mutter begann der Tag vor gut einem Jahr wie jeder andere. Um 7.45 Uhr begleitete sie ihren Sohn zu Fuß in die Volksschule. Während sie auf dem Gehsteig in der Ing.-Etzel-Straße unterwegs waren, hörte sie im Hintergrund ein Knistern und drehte sich um. Sie sah zu, wie eine riesige Robinie von hinten in ihre Richtung fiel.
Nur bruchstückhaft erinnert sich Semira Camdzic heute an den Unfallhergang: „Ich habe meinen Sohn weggeschubst und gesagt, er soll weglaufen. Ich habe mich noch einmal umgedreht und gesehen, wie der Baum immer schiefer steht. Er ist auf mein Gesicht gefallen. Dann kann ich mich an nichts mehr erinnern.“
Augenzeuge alarmierte Rettung
Die damals 46-Jährige wurde von einem massiven Ast am Kopf getroffen und unter dem Baum eingequetscht. Auch ihr siebenjähriger Sohn Adel lag am Boden, er blieb wie auf wundersame Weise unverletzt.
Gerhard Farbmacher beobachtete den Unfall aus nächster Nähe, er war Ersthelfer und derjenige, der die Rettung alarmierte. „Die Frau hat aus dem Kopf geblutet. Ich habe ihr gesagt, dass es ihrem Sohn gut gehe und sie ruhig bleiben soll, bis die Rettungskräfte kommen“, erinnert sich der Augenzeuge an den tragischen Moment. Es war ein Unfall, bei dem ein Mensch kaum Überlebenschancen hat.

„Ich habe einen kleinen Sohn, ich muss leben“
Semira Camdzic erwachte 47 Tage später, am 7. Mai 2021, aus dem Koma. Sie erlitt bei dem Unfall einen Schädelbasisbruch mit offenem Schädel-Hirntrauma und ausgeprägten Schädigungen im Bereich des Vorderhirns, des Sprach- und Sehzentrums. Es entwickelten sich mehrere lebensbedrohliche Komplikationen während der Krankenhausaufenthalte in der Klinik Innsbruck und im Landeskrankenhaus Hochzirl.
Eine Gesichtshälfte, das Gehör, der Geschmacks- und Geruchssinn und der Gleichgewichtssinn sind dauerhaft geschädigt. Und die Liste ließe sich fortsetzen. Von außen ist vieles nicht sichtbar, was das behandelnde Ärzteteam bei den laufenden Kontrollen abcheckt.
Trotz aller Verletzungen und bleibenden Schäden – den Genesungsverlauf bezeichnet die Leiterin der Neurologie am LKH Hochzirl, Elke Pucks-Faes, als herausragend: "Der Genesungsverlauf grenzt irgendwie an ein Wunder, nicht zuletzt weil auch die Erstversorgung in der Klinik Innsbruck exzellent funktioniert hat.
„Der Kampf zurück ins Leben ist für die Patientin mit viel Aufwand und Leistung verbunden gewesen. Wir stellen in der Rehabilitation auch immer wieder fest, wie wichtig es ist, welchen Hintergrund PatientInnen haben, welchen Grund sie haben, wieder auf die Beine zu kommen,“ sagt die Neurologin. Semira Camdzic meint rückblickend: „Ich wollte für meinen Sohn, der noch klein ist, für meine Tochter und meinen Mann überleben“.

Die Familie Camdzic hofft nun auf die Bewilligung einer barrierefreien Wohnung der Stadt Innsbruck, die das Unfallopfer dringend benötigt.