Martinsbühel
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Chronik

Missbrauch: Glettler sieht „Totalversagen“

Ein Bericht setzt sich mit Erniedrigung, sexualisierter Gewalt und Missbrauch in konfessionellen Heimen in Tirol seit 1945 auseinander. Soziallandesrätin Eva Pawlata (SPÖ) bat alle Betroffenen um Verzeihung, Bischof Hermann Glettler sprach von „pädagogischem Totalversagen“.

Anlass für die Aufarbeitung waren bekanntgewordene Missstände im Mädchenheim in Martinsbühel in Zirl. Nach Bekanntwerden der Missbrauchsvorwürfe im Jahr 2010 hatten sich rund 100 ehemalige Heimkinder an die Ombudsstelle der Diözese Innsbruck gewandt – mehr dazu in Missbrauch: Weitere Heime werden geprüft.

„Dreierkommission Martinsbühel“

Verfasst wurde der Bericht im Auftrag der „Dreierkommission Martinsbühel“, die im Jahr 2019 vom Land Tirol, der Diözese Innsbruck sowie den VertreterInnen der Ordensgemeinschaften eingesetzt wurde.

Die Dreierkommission besteht aus der Vorsitzenden Margret Aull (Erziehungswissenschaftlerin, Psychotherapeutin und Supervisorin), Elisabeth Harasser (Kinder- und Jugendanwältin bei der Kinder- und Jugendanwaltschaft Tirol), Judit Nötstaller (SSND School Sisters of Notre Dame), Dirk Rupnow (Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und derzeit Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Innsbruck) und Franz Pegger (Rechtsanwalt).

„Im Zuge der Aufarbeitung wurde festgestellt, dass Bedarf für eine Untersuchung weiterer Einrichtungen besteht. Aus diesem Grund haben wir das Forschungsprojekt auf weitere kirchliche Heime in Tirol nach 1945 ausgeweitet“, erinnert die Vorsitzende der Dreierkommission, Margret Aull.

75 Interviews für 400 Seiten starken Bericht geführt

Nach zweijähriger Forschungstätigkeit des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und des Wissenschaftsbüros Innsbruck liegt der Abschlussbericht „Demut lernen“ vor. Im Zuge ihrer Forschung nahmen Ina Friedmann und Friedrich Stepanek sieben Heime unter die Lupe und führten dafür 75 Interviews. Das Resultat ist ein 400 Seiten langer Bericht – mehr dazu in Heimbericht offenbart schrecklichen Alltag.

Konkret wurden die Heime Martinsbühel, Scharnitz, das Josefinum/Volders, die Bubenburg/Fügen, St. Josef/Mils, Thurnfeld/Hall und das Elisabethinum/Axams untersucht.

Eingang zur Schule Bubenburg in Fügen
APA/Roland Mühlanger
Auch Vorgänge in der Schule Bubenburg in Fügen wurden untersucht

Gehorsam, Demut, Fleiß und Frömmigkeit verlangt

„Es wird aufgezeigt, dass die Strukturen in den Heimen verschränkt mit den strukturellen Bedingungen von außen – dem Land und der Kirche – aber auch der Interaktion von Ordensschwestern und deren Übergeordneten Auswirkungen auf die Heimkinder hatten“, hielt Kommissionsvorsitzende Aull fest.

Die Schilderungen in den durchgeführten Interviews würden zeigen, dass die Ordensangehörigen von den schutzbefohlenen Kindern stets Gehorsam, Demut, Fleiß und Frömmigkeit verlangt hatten.

Angstbehaftete und gewaltgeprägte Atmosphäre

Weder die fehlende erzieherische Ausbildung der damaligen Ordensfrauen, noch die Gruppengröße – in Martinsbühel musste etwa eine Schwester in den 1970er Jahren bis zu 50 Mädchen betreuen – war für die Kinder und deren Bedürfnisse förderlich. „Die Schilderungen der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner machten uns deutlich, dass eine angstbehaftete und gewaltgeprägte Atmosphäre vorherrschte“, so Aull. Befragte sprachen demnach von struktureller, physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt.

Ausgedruckter Bericht zu Missbrauch in Heimen
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Der Bericht der Kommission umfasst 400 Seiten

Betroffene vermissten Eingreifen der Behörde

Neben der strukturellen Gewalt wurde von den Befragten auch von psychischer (beispielsweise das Einreden von Schuldgefühlen etc.) sowie physischer Gewalt – etwa Ohrfeigen oder Schläge – berichtet. Betroffene berichteten, dass die damalige Jugendfürsorge des Landes und auch die jeweiligen Schulbehörden nicht oder zumindest zu wenig genau hinschauten.

Auch von sexualisierter Gewalt wurde erzählt. „Da sexualisierte Gewalt verschiedene Formen betrifft und sich auf weit mehr Formen als eine Vergewaltigung bezieht, verstanden manche ehemalige Heimkinder erst im Nachhinein, dass sie sexualisierte Übergriffe erfahren hatten“, zeigte Kommissionsvorsitzende Aull auf.

Bischof Glettler drückt Mitgefühl aus

„Mein Mitgefühl gilt allen, die in den Heimen traumatisiert wurden“, sagte Innsbrucks Diözesanbischof Glettler, der auf die Einrichtung einer unabhängigen Opferschutzkommission verwies. „Zahlreiche Personen, von denen einige im Bericht ihre dramatischen Erfahrungen schildern, wurden von dieser Kommission angehört und haben Unterstützungszahlungen erhalten. Ebenso wichtig war die sofortige Einrichtung von Ombudsstellen in allen Diözesen und die Erarbeitung von Präventionskonzepten, die ständig aktualisiert werden“, meinte er.

Hermann Glettler
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Hermann Glettler drückt allen Betroffenen sein Mitgefühl aus

Pawlata verweist auf Kinder- und Jugendanwaltschaft

Pawlata hielt fest, dass man alles dafür tun müsse, dass so etwas nie mehr vorkomme. „Dazu müssen wir das Thema Gewalt, auch strukturelle Gewalt, noch deutlicher ins Bewusstsein holen und dafür sensibilisieren – und das Tag für Tag“, sagte die Landesrätin, die früher Leiterin des Gewaltschutzzentrums Tirol war.

Eva Pawlata
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Ewa Pawlata will mit einer Enquete zu einer aktiven Erinnerungskultur beitragen

Seither wurde etwa eine Kinder- und Jugendanwaltschaft eingerichtet. Man müsse die finanziellen Ausstattungen in den Heim-, Betreuungs- und Bildungsstätten für die Kinder weiter sichern und ausbauen. Außerdem werde es eine Enquete geben, um Betroffenen eine öffentliche Aufmerksamkeit zu geben, die offenbar gewünscht werde.