Es gehe dabei auch um die EU-weite Vernetzung sowie die Erstellung eines Betroffenenregisters. Dies sei wegen der Fortschritte bei gentherapeutischen Medikamenten von immenser Bedeutung, so Zentrumsleiterin Sylvia Bösch im Interview mit der Austria Presseagentur (APA).
Durch ebenjene ERN, die auch einheitliche Standards für Diagnostik und Therapie, Aus- und Weiterbildung gewährleisten sollen, sei es möglich zu wissen, wo von bestimmten seltenen Krankheiten betroffene Menschen lebten, führte die Leiterin aus. Damit können neben ausgeglichenen Standards auch die Grundlagen für die sogenannte „Study oder Trial Readiness“ erarbeitet werden. Eine Erkrankung sei laut EU-Definition dann „selten“, sobald weniger als fünf von 10.000 Personen darunter litten, so Bösch.
Medikamente für kleine Gruppe werden teurer
Ein verschlüsseltes Betroffenenregister sei sinnvoll, da damit zu rechnen sei, dass in nächster Zukunft mit einer Welle neuer, maßgeschneiderter, aber auch extrem teuren Medikamenten für kleine Patientengruppen mit seltenen Krankheiten zu rechnen sei. Bösch ortete einen potenziellen Konflikt zwischen dem „Patientenrecht“ auf der einen und dem „gesundheitsökonomischen und politischen Umgang mit den Kosten solcher Therapien“ auf der anderen Seite. Die Entwicklung und Erprobung maßgeschneiderter gentherapeutischer Medikamente sei nämlich aufwendig und teuer.
In Zukunft könnte sich die Bepreisung solcher Medikamente nach der Frage richten, „wie viel ein Menschenleben wert“ sei, warnte Bösch. Dann stelle sich die Frage, ob sich die Gesellschaft diese Kosten für Betroffene mit seltenen Krankheiten im Rahmen des allgemeinen Gesundheitssystems noch leisten könne. Da „kommt viel auf uns zu“, war Bösch der Meinung und unterstrich in Bezug auf die ERN: „Ein Überblick ist gut, um das Problem abschätzen, gestalten, und steuern zu können.“
Experten tauschen sich regelmäßig virtuell aus
Davon abgesehen würden europaweite Netzwerke dazu beitragen, sich auszutauschen und voneinander zu lernen. Dass man Wissen und Expertise in Zentren bündle, habe außerdem dazu geführt, dass sich Patientinnen und Patienten seltener auf den Weg quer durch Europa machten, um eine Diagnose und eine darauffolgende Behandlung zu bekommen, nannte Bösch weitere Indizien des aktuellen Wandels. Heute fänden ein virtueller Austausch von Expertinnen und Experten sowie virtuelle Beratungsgespräche regelmäßig statt.
Um eine Akkreditierung zum ERN zu bekommen, müssten Zentren einen strengen Prozess durchlaufen. Die Akkreditierung würde dann auch nur auf eine gewisse Zeit vergeben und hänge nicht an einzelnen Personen, sondern ganzen Strukturen, so Bösch, die das Zentrum in Innsbruck mit einem fünfköpfigen Kernteam leitet.
500 Personen werden in Österreich betreut
Selbstverständlich seien aber noch zahlreiche andere Expertinnen und Experten vor Ort involviert. Das Zentrum betreue schließlich aktuell 500 Personen in ganz Österreich, so Bösch. Viele frühere Aktivitäten seien schon vorher gefördert worden, nun finde das ganze „unter einem Dach“ statt.
Unter den Patientinnen und Patienten seien etwa Menschen, die unter genetisch veranlagten Gleichgewichtsstörungen litten, die meist in der Pubertät auftreten und mit einer Herzschwäche einhergehen, erklärte die Neurologin. Hier arbeite man eng mit Kardiologinnen und Kardiologen zusammen.
Forschen und Experten-Austausch bis zum Ergebnis
Auch sogenannte „Dystonien“ zählten als seltene Bewegungsstörungen. Hier komme es zu Verkrampfungen der Muskulatur. Ferner würden auch metabolische Störungen, also Störungen des Stoffwechsels, und spastische Bewegungsstörungen behandelt. Kann eine Diagnose nicht sofort gestellt werden, forsche man so lange und tausche sich so lange aus, bis eine Klärung möglich wird.
Kritisch sah Bösch die Tatsache, dass Übergang von universitärem Wissen in die Praxis zu langsam voran gehe. Auch sei es in Europa schwierig, Risikokapital für Neu-Entwicklungen im Pharmabereich zu bekommen, gab Bösch zu bedenken. Hier seien die USA wendiger und schneller, was sich zuletzt auch bei der Entwicklung des Coronaimpfstoffs beispielhaft gezeigt habe.
Europa soll sich aus Schatten der USA befreien
Europa müsse sich auch bei „Innovationen, Preisgestaltung und Zulassung“ ihrer Meinung nach aus dem „Schatten“ der USA befreien. Möglicherweise seien die ERN auf dem Gebiet der seltenen Krankheiten ein Anfang und ein Zeichen, dass die Europäische Union neu durchstarte, meinte Bösch.