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Wohnen: „Mittelstand-Liste“ sorgt für Kritik

Eine neue Vergabeliste soll in Innsbruck auch Besserverdienenden eine Stadtwohnung ermöglichen. Das sieht ein Entwurf der Fraktionen Für Innsbruck, der ÖVP und der FPÖ vor. Vor der Gemeinderatssitzung am Dienstag kritisieren Experten den Vorstoß wegen unfairer Bedingungen.

Die derzeitige Richtlinie regelt die Vergabe von städtischen Mietwohnungen nach einem Punktesystem. Dabei werden Menschen mit einem geringeren Einkommen nach einer Antragstellung vorgemerkt. Bei der zusätzlichen Warteliste soll es laut Entwurf, der dem ORF Tirol vorliegt, neue Bedingungen geben. Eine davon ist eine höhere Einkommensgrenze. Dadurch würden auch Menschen aus dem Mittelstand die Chance auf eine günstigere Sozialwohnung erhalten.

Lukas Krackl
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FI-Klubobmann Lucas Krackl

Der Klubobmann der Fraktion Für Innsbruck (FI), Lucas Krackl, will damit der Mittelschicht ein Angebot für das Leben in der Landeshauptstadt machen: „Wir müssen auch jene Menschen hier halten, die nicht im oberen Segment des Einkommens liegen, aber auch nicht im unteren Bereich.“ Denn genau diese könnten sich Wohnungen nicht mehr leisten, obwohl sie genügend verdienen würden, so Krackl.

SPAK ortet „Zweiklassengesellschaft“

Der Sozialpolitische Arbeitskreis Tirol (SPAK), ein Zusammenschluss von 21 regionalen Sozialeinrichtungen, kritisierte den Vorstoß von FI, ÖVP und FPÖ in einem offenen Brief (siehe Factbox). „Die Hälfte der zukünftig zu vergebenden Sozialwohnungen würde somit für Menschen bereitgestellt werden, die nicht sozial bedürftig sind und sich auch am privaten Wohnungsmarkt Wohnraum leisten könnten“, heißt es darin.

Nach der derzeitigen Regelung darf ein Ein-Personen-Haushalt maximal 3.000 Euro netto pro Monat verdienen. Bei einem Zwei-Personen-Haushalt liegt die Grenze bei 5.000 Euro netto, wie Peter Grüner vom Durchgangsort für Wohnungs- und Arbeitsuchende (DOWAS) als Vertreter des SPAK vorrechnet.

Nach dem Entwurf der neuen „Mittelstand-Liste“ würden die Einkommen von minus zehn Prozent bis plus 20 Prozent der Höchstgrenze reichen. Das bedeute, dass beispielsweise ein Single-Haushalt bis zu 3.600 Euro netto monatlich verdienen und sich für die Liste vormerken lassen darf.

Die neuen Richtlinien seien demnach nicht sozial treffsicher. Vielmehr gebe es in Zukunft eine Zweiklassengesellschaft bei der Wohnungsvergabe. „Im Sinne der Prävention von Wohnungslosigkeit ist es zentral, Menschen so einfach wie möglich Zugang zu leistbarem Wohnraum zu geben“, sagt Julia Schratz, Leitung des DOWAS für Frauen und ebenfalls Vertreterin im SPAK. Da die Betroffenen noch länger warten müssten, würde sich die Situation für sie verschärfen.

Verfassungsjurist: „Zweite Liste wäre radikaler Bruch“

Mit der zusätzlichen Liste würde sich die Nachfrage auf ein ohnehin knappes Angebot vergrößern, sagte der Verfassungs- und Verwaltungsjurist Karl Weber. In einer rechtspolitischen Bewertung nahm er für den SPAK Stellung zum Entwurf von FI, ÖVP und FPÖ. Weber beurteilte den Ansatz als sehr problematisch und sprach von einer „lose-lose-Situation“. Der Mittelstand habe dadurch keine großen Chancen auf die wenigen Stadtwohnungen. „Es wird viel mehr versprochen, als man halten kann“, sagte er.

Zusätzlich werde laut Weber der verfassungsmäßige Gleichheitsgrundsatz verletzt. Durch die zweite Vergabeliste entstehe eine gleiche Behandlung von ungleichen Personengruppen. „Das wären dann auch Bewohner von relativ luxuriösen Wohnungen, die sich sozusagen in die Warteliste hineindrängen könnten“, so Weber. Das sei ein „radikaler Bruch“ mit der derzeitigen Rechtslage. Insgesamt hält er es für einen unsolidarischen Akt, wenn finanziell Schwächere zu kurz kommen. So habe das „sehr stark den Anschein von Vorwahl- und Klientelpolitik“, meinte er im Interview mit dem ORF Tirol.

Jährlich warten etwa 2.000 Personen

Laut dem Offenen Brief des SPAK stehen seit Jahren konstant etwa 2.000 Menschen auf der Vergabeliste für städtische Wohnungen. Ungefähr 500 würden pro Jahr nachbesiedelt werden. Dabei kämen zusätzlich zwischen 150 und 170 neue Wohnungen dazu. Insgesamt ergebe das für die Menschen auf der Liste Wartezeiten von drei bis vier Jahren.

Für FI-Klubobmann Lucas Krackl ist es notwendig, die Zahl der 2.000 Personen auf der Vergabeliste zu hinterfragen. „Nicht jeder, der auf der städtischen Liste steht, ist automatisch wohnungslos“, sagte er. Die Menschen würden sich dafür anmelden, um eine bessere oder leistbarere Wohnung zu bekommen. Anschließend würden ohnehin viele Wohnungen abgelehnt werden.

Coronavirus-Sitzordnung
zeitungsfoto.at
Der Innsbrucker Gemeinderat behandelt am Dienstag die Einführung einer zweiten Warteliste für städtische Wohnungen

Die Kritik der Sozialeinrichtungen und des Verfassungsjuristen wies Krackl zurück. Ihm gehe es darum, niemanden auszuschließen. Dazu gehöre auch der Mittelstand. „Wir dürfen nicht übersehen, dass viele junge Menschen und Familien aus Innsbruck abwandern, weil sie sich das Leben nicht mehr leisten können, obwohl sie einen guten Beruf haben“, meinte Krackl. Das seien schließlich die Leistungsträger der Gesellschaft, die es dringend brauche.

Krackl rechnet mit Inkrafttreten Anfang 2023

Dass es für den Mittelstand Maßnahmen in puncto leistbares Wohnen benötigt, betonen alle Beteiligten. Anstelle der Wohnungsvergabe plädiert Weber etwa für andere Unterstützungsleistungen wie Beihilfen. Dabei sei speziell das Land gefordert.

Vor der Innsbrucker Gemeinderatssitzung am Dienstag erwartet FI-Klubobmann Lucas Krackl eine baldige Umsetzung der zweiten Vergabeliste. Gemeinsam mit den Stimmen von ÖVP und FPÖ würde sein Antrag eine Mehrheit finden. „Es ist eine richtungsweisende Entscheidung für die Stadt Innsbruck“, so Krackl. Er geht davon aus, dass noch in diesem Jahr ein endgültiger Beschluss kommt, damit die neue Regelung mit Anfang 2023 in Kraft treten könne.