Im vergangenen Schuljahr nahmen tirolweit 434 Erziehungsberechtigte ihren Sohn oder ihre Tochter aus der Schule, um sich zu Hause selber um den Unterricht zu kümmern, weitere 106 Tirolerinnen und Tiroler meldeten ihre Kinder von der Vorschule ab. Kurz vor Beginn der Pandemie hatte es im ganzen Land lediglich 210 solcher Fälle gegeben. Die Zahl sei dann aber rasant in die Höhe geschossen, wie Christian Biendl schilderte, der in der Tiroler Bildungsdirektion für das Qualitätsmanagement Tirol West zuständig ist: „Das war wirklich außergewöhnlich und ist mit nichts vergleichbar. Vorher war das ein durchaus selteneres Phänomen“, so der Experte.
Früher waren es vor allem Menschen, die eine längere Weltreise planten oder einfach neugierig waren und den Selbstversuch starten wollten, sich selbst um die Bildung ihres Nachwuchses zu kümmern – mehr dazu in Daheim statt Schule: Unterricht zu Hause. Nur selten waren es religiöse Gründe oder extreme Ansichten, die den Ausschlag gaben. Das hat sich seit der Pandemie allerdings verändert – das Virus wurde zum Motivationsgrund Nummer eins.
Vermeiden von Tests und Maskenpflicht
Einige Eltern hätten die Kinder etwa lieber selbst daheim unterrichtet, um sie vor einer Ansteckung zu schützen, erklärte Biendl. Der überwiegende Teil jener, die ihre Kinder von der Schule abmeldeten, hätten damit aber die Covid-Tests und die Maskenpflicht umgehen wollen – trotz des hohen Aufwands, der mit dieser Entscheidung auf sie zukam: „Viele Eltern werden sicher bestätigen, dass schon das normale Homeschooling nicht so einfach ist. Dass man dann noch mehr Lust hat, diese Verantwortung sogar freiwillig zu übernehmen und sich das Unterrichten anzutun, ist schon verwunderlich.“

Heimunterricht sei besonders in den Bezirken Reutte und Imst ein großes Thema, berichtete der Pädagoge. Vor allem in den Gemeinden Ötz und Vils würde es relativ viele Anmeldungen dafür geben.
Späte Reue: Kinder doch wieder angemeldet
Entscheidet man sich für den häuslichen Unterricht und die Bildungsdirektion gibt diesem Antrag statt, verpflichtet man sich für ein ganzes Jahr. Einige Tiroler Eltern hätten es sich dann jedoch kurz vor Ende des vergangenen Schuljahrs doch wieder anders überlegt und die Kinder wieder in die Schule gebracht: „Eltern haben dann den Heimunterricht abgebrochen. Vielleicht war das Panik, vielleicht Einsicht. Sie haben dann die Kinder wieder in die Regelschule gegeben, allerdings mit mäßigem Erfolg, denn wenn ich fast ein ganzes Jahr verpasse, ist es natürlich dementsprechend sehr schwer, Prüfungen zu bestehen“, gab Biendl zu bedenken.

„Härtefälle“ ziehen vor Gericht
Am Ende des Schuljahres soll eine Externistenprüfung Gewissheit darüber bringen, ob der Stoff zu Hause gelernt bzw. gelehrt wurde oder nicht. Die Ergebnisse des vergangenen Schuljahres streuten sich laut Tiroler Bildungsdirektion zwischen „brillant“ und „katastrophal“. Offenbar haben sich viele Erziehungsberechtigte übernommen: Von den insgesamt 168 Volksschülerinnen und -schülern, die von ihren Eltern zu Hause unterrichtet wurden, bestanden 2021/22 sechs Kinder das Schuljahr nicht, weitere 37 traten gar nicht zur Externistenprüfung an. Im Mittelschulbereich fielen 45 von insgesamt 266 durch, weitere 48 probierten es nicht einmal. Das sind insgesamt – je nach Schulstufe – also bis zur Hälfte aller Schülerinnen und Schüler, die sich der verpflichtenden Leistungsüberprüfung nicht gestellt haben.
„Die haben jetzt ein Schreiben von unserer Rechtsabteilung bekommen, dass die Kinder im kommenden Jahr die Klasse in einer öffentlichen Schule wiederholen müssen, weil sonst saftige Strafen drohen. Eine Handvoll Eltern akzeptieren auch diese Maßnahme nicht und haben angekündigt, dass sie sich an den Bundesverwaltungsgerichtshof wenden werden“, schilderte Christian Biendl. Weiters sei abzuwarten, ob wirklich alle, die das vergangene Schuljahr wiederholen müssen, im Herbst auch in den Unterricht kommen, oder ob dann weiterer Widerstand folgt.

Heimunterricht soll strengeren Regeln unterliegen
Teilweise bildeten sich im vergangenen Jahr auch Lerngruppen, vor allem in Kufstein, Reutte und im Ötztal. Diese seien quasi wie illegale Privatschulen geführt worden, erklärte der Experte – mehr dazu in Drei private Lerngruppen angezeigt.
Für das kommende Schuljahr hat die Bildungsdirektion Maßnahmen getroffen, um solche Entwicklungen zu unterbinden: So muss in Zukunft etwa eine bestimmte Person angegeben werden, die den häuslichen Unterricht durchführt, was auch kontrolliert wird. Auch halbjährliche Reflexionsgespräche mit der Sprengelschule werden verpflichtend – bis jetzt basierten sie auf Freiwilligkeit. Zudem konnte man sich heuer nur bis Ferienbeginn für den Heimunterricht im darauffolgenden Schuljahr anmelden, früher war das den ganzen Sommer lang möglich.
Kinder vermissen soziale Kontakte
Für das kommende Schuljahr sind 438 Tiroler Kinder für häuslichen Unterricht angemeldet, davon 181 für die Vorschulstufe: „Das ist doch wieder eine recht hohe Zahl“, gab Christian Biendl zu bedenken, „zumal ja doch 114 nicht noch einmal einen solchen Antrag stellen konnten, da ihre Kinder das vorige Jahr an einer Schule wiederholen müssen.“
Viele befragte Schülerinnen und Schüler würden hinter vorgehaltener Hand durchaus den Wunsch äußern, wieder in die Schule zurückzukehren: „Freunde gehen ihnen ab, und die sozialen Kontakte fehlen ihnen“, so der Experte. Auch die Qualität des zu Hause erhaltenen Unterrichts sei eben oft nicht gut. Im schlimmsten Fall verlieren die Kinder ein ganzes Jahr, das sie dann wiederholen müssen. Die Tiroler Bildungsdirektion hofft deshalb, dass der Trend zum Heimunterricht wieder abflacht. Es bliebe abzuwarten, ob und wie die Eltern in solchen Fällen wieder vom Schulsystem überzeugt werden können, hieß es.