Die Luft ist das Element von Hans-Walter Müller. Der deutsche Architekt, Bauingenieur und Künstler erschafft neue Welten aus hauchdünnen, bunten Kunststoffgeweben. Seine aufblasbaren Volumina pulsieren weltweit von Paris über Tokyo bis Sao Paulo.
Seine Strukturen vergleicht der Architekt mit dem menschlichen Körper, der auch aus Flüssigkeiten besteht und von der Haut umschlossen wird, wie jeder lebende Organismus. „Wie eine Pumpe erzeugt das Herz den Druck im Blut“, erklärt Müller. In seinen „atmenden“ Gebilden läuft ununterbrochen ein Ventilator, um sie „am Leben“ zu erhalten, das sei das Herz des Hauses. Das permanente Rauschen empfindet er beruhigend.
Gebäude die wachsen und schrumpfen können
1971 hat Hans-Walter Müller begonnen, sich seine eigene aufblasbare Welt in La Ferté-Alais in der Nähe von Paris zu erschaffen. Auf einem großzügigen Freigelände voller Teiche, Pflanzen und Tomatenplantagen ist ein Gesamtkunstwerk entstanden.
Der leidenschaftliche Tüftler experimentiert hier seit mehr als 50 Jahren mit den „Gonflables“. Die aufblasbare Architektur hat er zwar nicht erfunden, doch er verbringt sein Leben damit und darin. Um den Druckverlust an der Tür zu minimieren hat er eine spezielle Schleuse entwickelt.
Couturier von Wohnhüllen
Die Arbeit an der Schweißmaschine vergleicht Müller mit der eines Couturiers, der hauchdünne Materialien auswählt, Schnittmuster entwirft und Stoffe zuschneidet. Seine Behausung sei für ihn wie eine dritte Haut. „Ich entwerfe weite Kleider, die mich umhüllen und in denen ich lebe.“ Sich selbst bezeichnet der Architekt als Versuchskaninchen, denn nur wenn er das Leben im leichten Überdruck am eigenen Leib erforsche, sei er für potentielle Bauherren glaubwürdig. Bislang ist sein Volumen das einzige realisierte Wohnobjekt.
Sauerstoff als Jungbrunnen
Durch den leichten, die Betonung liegt auf dem leichten Überdruck und den höheren Sauerstoffgehalt im Innenraum, würde er eine gewisse Euphorie verspüren, erklärt der energiegeladene Baukünstler. Der 86-Jährige versucht, jeden Augenblick in ein Erlebnis zu verwandeln und tanzt zu „Vieni via con me“ von Paolo Conte durch sein aufgeblasenes Atelier.
„Ich fühle mich wie eine Forelle in einem Gebirgsbach“, beschreibt es der Deutsche mit dem charmanten französischen Akzent. „Durch den höheren Sauerstoffgehalt müsste man eigentlich schneller verbrennen, doch dafür gibt es bei mir noch keine Anzeichen. Diese Atmosphäre hält mich jung. Ich habe die Befürchtung, dass ich 150 Jahre alt werden könnte.“
Der 1935 in Worms Geborene hat in den frühen 1960er Jahren erst in Darmstadt und dann an der École des Beaux-Arts in Paris Architektur studiert und nebenbei eine Pantomime-Ausbildung absolviert. Die Rolle des Zauberers steht dem drahtigen Erfinder mit der übergroßen roten Brille und den ausladenden Armbewegungen.
Wenn er das Auf und Ab seiner atmenden Gebilde inszeniert, wirkt der Musikliebhaber wie ein Dirigent. Seine luftigen Bauten sind nicht in Stein gemeißelt sondern mobil. Die Strukturen kommen ohne einschränkende Wände aus. Müller geht es um die Kontinuität der Räume vom Atelier über den Wohnraum bis zu seinem mobilen Bett. Die runden Volumina seien auch zum Hören von Musik gut geeignet, denn „die Schallwelle verschmilzt mit der Luft, die uns erfüllt.“
Kirche, Theater und Zelte für Clochards – alles aus Luft
Ein kleines, weniger als 40 Kilogramm schweres Paket entfaltet sich innerhalb von zehn Minuten zu einer großräumigen Kirche für 200 Personen. Mit dieser „église gonflable“ erhält Hans-Walter Müller 1969 zum ersten Mal international Aufmerksamkeit.
Für Obdachlose in Paris entwickelt Müller mobile Schutzbehausungen. „Den Clochards in Paris habe ich aufblasbare Volumen gegeben und eine Flasche Wein. Sie haben die Zelte über Metroschächte gestellt, aus denen warme Luft herausbläst. Wenn die Polizei kommt, packen sie alles schnell zusammen und stellen es einfach woanders wieder auf,“ freut Müller über die Brauchbarkeit seiner Idee.
Vom experimentellen Theater für die Galerie Maeght in Saint-Paul-de-Vence (1970) mit einem Bühnenbild von Andy Warhol, über ein temporäres Einkaufszentrum während der Stadterneuerung von Sarcelles (1982) bis zu einem speziell für das Zentrum von Paris in Chaillot entwickelten Volumen (1997) hat Hans-Walter Müller zahlreiche temporäre Installationen verwirklicht. Reich werde man mit seinen Ideen nicht, schmunzelt er. Der Freiheitsliebende habe immer die Unabhängigkeit vorgezogen und nichts zur Selbstvermarktung beigetragen.
Alles kommt und geht
Vor zwei Jahren wollte der französische Staat das Ensemble in La Ferté-Alais unter Denkmalschutz stellen. Der Künstler wehrt sich dagegen, denn seine Bauten seien nicht für die Ewigkeit gemacht. Seine Gebilde seien vergänglich, so wie er selbst, betont Müller erfrischend offen, ohne dabei sentimental zu werden. „Die Vergänglichkeit ist ein Grundprinzip meiner Arbeit und meines Lebens. Meine Volumen sind wie Musik. Wenn Sie Musik hören, reiht sich ein Ton an den anderen und dann ist er schon wieder weg, doch eine Melodie entsteht. Dieses Auftauchen und Verschwinden in der Musik, das möchte ich auch in meiner Architektur anwenden.“
Echte Luftschlösser
Neben seinem Wohnatelier hat Hans-Walter Müller eine „Klangstruktur mit Resonanzkugel“ (1995) installiert. In dem transparenten Klangballon steht ein Klavier, das Müller auch manchmal mitten in der Nacht zum Klingen bringt. „Architektur muss so gemacht sein, dass man wachsen und wach sein kann; das ist extrem wichtig. Es reicht nicht, dass ein Gebäude von außen gut aussieht. Man muss in ihm etwas empfinden können, auch ohne es erklären zu können. In meinen aufblasbaren Volumen, die von Natur aus rund sind, fühlt sich der Mensch oft sehr wohl. Natürlich ist es zu einfach, auf den Mutterleib zu verweisen…“
Mit der Bezeichnung seiner Bauten als Luftschlösser hat der Architekt kein Problem. „Mir ist es gelungen, ein Luftschloss wirklich zu bauen. Ich bin früher auch als Zauberkünstler aufgetreten. Ich wollte immer schon etwas ermöglichen, das eigentlich unmöglich ist. Mir geht es nicht nur ums Träumen, sondern der Traum wird Wirklichkeit.“
Das Innsbrucker Zentrum aut.architektur und tirol widmet dem Pionier des Bauens mit Luft die erste umfassende Schau in Österreich.