Resonanzkugel
Lukas Schaller
Lukas Schaller
Kultur

Aufblasbare Architektur: Bauen mit Luft

Der Architekt Hans-Walter Müller experimentiert seit den 1960er Jahren mit aufblasbaren Strukturen. Er entwickelte Bühnenbilder, ein temporäres Einkaufszentrum oder eine Kirche. Der 86-Jährige lebt selbst in einem aufblasbaren Volumen bei Paris. In Innsbruck ist dem Pionier die erste umfassende Schau in Österreich gewidmet.

Die Luft ist das Element von Hans-Walter Müller. Der deutsche Architekt, Bauingenieur und Künstler erschafft neue Welten aus hauchdünnen, bunten Kunststoffgeweben. Seine aufblasbaren Volumina pulsieren weltweit von Paris über Tokyo bis Sao Paulo.

Seine Strukturen vergleicht der Architekt mit dem menschlichen Körper, der auch aus Flüssigkeiten besteht und von der Haut umschlossen wird, wie jeder lebende Organismus. „Wie eine Pumpe erzeugt das Herz den Druck im Blut“, erklärt Müller. In seinen „atmenden“ Gebilden läuft ununterbrochen ein Ventilator, um sie „am Leben“ zu erhalten, das sei das Herz des Hauses. Das permanente Rauschen empfindet er beruhigend.

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Sao Paulo 2010
Hans-Walter Müller
Ein Theatersaal in Sao Paulo (2010), die Verwandlung des Volumens war Teil der Inszenierung
Müller
Hans-Walter Müller
Die zentrale Anlaufstelle einer temporären Flüchtlingsunterkunft an der Porte de la Chapelle in Paris (2016)
Müller
Hans-Walter Müller
Das Volumen für die Ausstellung „Bauen zum Wohnen“ in Paris (1981)
Müller
Hans-Walter Müller
Ein aufblasbares Boot (2007)
Müller
Hans-Walter Müller
Der Tour de Sel in Calvi wurde zum Wahrzeichen des „Festival du Vent“, bei dem Hans-Walter Müller 20 Jahre mitgearbeitet hat

Gebäude die wachsen und schrumpfen können

1971 hat Hans-Walter Müller begonnen, sich seine eigene aufblasbare Welt in La Ferté-Alais in der Nähe von Paris zu erschaffen. Auf einem großzügigen Freigelände voller Teiche, Pflanzen und Tomatenplantagen ist ein Gesamtkunstwerk entstanden.

Der leidenschaftliche Tüftler experimentiert hier seit mehr als 50 Jahren mit den „Gonflables“. Die aufblasbare Architektur hat er zwar nicht erfunden, doch er verbringt sein Leben damit und darin. Um den Druckverlust an der Tür zu minimieren hat er eine spezielle Schleuse entwickelt.

Couturier von Wohnhüllen

Die Arbeit an der Schweißmaschine vergleicht Müller mit der eines Couturiers, der hauchdünne Materialien auswählt, Schnittmuster entwirft und Stoffe zuschneidet. Seine Behausung sei für ihn wie eine dritte Haut. „Ich entwerfe weite Kleider, die mich umhüllen und in denen ich lebe.“ Sich selbst bezeichnet der Architekt als Versuchskaninchen, denn nur wenn er das Leben im leichten Überdruck am eigenen Leib erforsche, sei er für potentielle Bauherren glaubwürdig. Bislang ist sein Volumen das einzige realisierte Wohnobjekt.

Hans-Walter Müller
Lukas Schaller
Hans-Walter Müller im „Belvedere“ auf seinem Gelände in der Nähe von Paris, mit Arbeitsplatz und höhenverstellbarem Bett

Sauerstoff als Jungbrunnen

Durch den leichten, die Betonung liegt auf dem leichten Überdruck und den höheren Sauerstoffgehalt im Innenraum, würde er eine gewisse Euphorie verspüren, erklärt der energiegeladene Baukünstler. Der 86-Jährige versucht, jeden Augenblick in ein Erlebnis zu verwandeln und tanzt zu „Vieni via con me“ von Paolo Conte durch sein aufgeblasenes Atelier.

Der Filmemacher Lukas Schaller hat Hans-Walter Müller 2019 porträtiert

„Ich fühle mich wie eine Forelle in einem Gebirgsbach“, beschreibt es der Deutsche mit dem charmanten französischen Akzent. „Durch den höheren Sauerstoffgehalt müsste man eigentlich schneller verbrennen, doch dafür gibt es bei mir noch keine Anzeichen. Diese Atmosphäre hält mich jung. Ich habe die Befürchtung, dass ich 150 Jahre alt werden könnte.“

Der 1935 in Worms Geborene hat in den frühen 1960er Jahren erst in Darmstadt und dann an der École des Beaux-Arts in Paris Architektur studiert und nebenbei eine Pantomime-Ausbildung absolviert. Die Rolle des Zauberers steht dem drahtigen Erfinder mit der übergroßen roten Brille und den ausladenden Armbewegungen.

aut
ORF
Der in Frankreich lebende deutsche Architekt Hans-Walter Müller baut echte Luftschlösser

Wenn er das Auf und Ab seiner atmenden Gebilde inszeniert, wirkt der Musikliebhaber wie ein Dirigent. Seine luftigen Bauten sind nicht in Stein gemeißelt sondern mobil. Die Strukturen kommen ohne einschränkende Wände aus. Müller geht es um die Kontinuität der Räume vom Atelier über den Wohnraum bis zu seinem mobilen Bett. Die runden Volumina seien auch zum Hören von Musik gut geeignet, denn „die Schallwelle verschmilzt mit der Luft, die uns erfüllt.“

Aufblasbare Kirche
Hans-Walter Müller
Dieses kleine Paket lässt sich innerhalb von zehn Minuten zu einer Kirche aufblasen, die 200 Menschen Platz bietet

Kirche, Theater und Zelte für Clochards – alles aus Luft

Ein kleines, weniger als 40 Kilogramm schweres Paket entfaltet sich innerhalb von zehn Minuten zu einer großräumigen Kirche für 200 Personen. Mit dieser „église gonflable“ erhält Hans-Walter Müller 1969 zum ersten Mal international Aufmerksamkeit.

Für Obdachlose in Paris entwickelt Müller mobile Schutzbehausungen. „Den Clochards in Paris habe ich aufblasbare Volumen gegeben und eine Flasche Wein. Sie haben die Zelte über Metroschächte gestellt, aus denen warme Luft herausbläst. Wenn die Polizei kommt, packen sie alles schnell zusammen und stellen es einfach woanders wieder auf,“ freut Müller über die Brauchbarkeit seiner Idee.

Müller
Hans-Walter Müller

Vom experimentellen Theater für die Galerie Maeght in Saint-Paul-de-Vence (1970) mit einem Bühnenbild von Andy Warhol, über ein temporäres Einkaufszentrum während der Stadterneuerung von Sarcelles (1982) bis zu einem speziell für das Zentrum von Paris in Chaillot entwickelten Volumen (1997) hat Hans-Walter Müller zahlreiche temporäre Installationen verwirklicht. Reich werde man mit seinen Ideen nicht, schmunzelt er. Der Freiheitsliebende habe immer die Unabhängigkeit vorgezogen und nichts zur Selbstvermarktung beigetragen.

Müller
Lukas Schaller
Das aufblasbare Volumen, in dem Hans-Walter Müller seit mehr als 50 Jahren lebt und arbeitet

Alles kommt und geht

Vor zwei Jahren wollte der französische Staat das Ensemble in La Ferté-Alais unter Denkmalschutz stellen. Der Künstler wehrt sich dagegen, denn seine Bauten seien nicht für die Ewigkeit gemacht. Seine Gebilde seien vergänglich, so wie er selbst, betont Müller erfrischend offen, ohne dabei sentimental zu werden. „Die Vergänglichkeit ist ein Grundprinzip meiner Arbeit und meines Lebens. Meine Volumen sind wie Musik. Wenn Sie Musik hören, reiht sich ein Ton an den anderen und dann ist er schon wieder weg, doch eine Melodie entsteht. Dieses Auftauchen und Verschwinden in der Musik, das möchte ich auch in meiner Architektur anwenden.“

Echte Luftschlösser

Neben seinem Wohnatelier hat Hans-Walter Müller eine „Klangstruktur mit Resonanzkugel“ (1995) installiert. In dem transparenten Klangballon steht ein Klavier, das Müller auch manchmal mitten in der Nacht zum Klingen bringt. „Architektur muss so gemacht sein, dass man wachsen und wach sein kann; das ist extrem wichtig. Es reicht nicht, dass ein Gebäude von außen gut aussieht. Man muss in ihm etwas empfinden können, auch ohne es erklären zu können. In meinen aufblasbaren Volumen, die von Natur aus rund sind, fühlt sich der Mensch oft sehr wohl. Natürlich ist es zu einfach, auf den Mutterleib zu verweisen…“

Resonanzkugel
Lukas Schaller
In der „Resonanzkugel“, die Hans-Walter Müller neben seinem Wohnhaus installiert hat, erklingt das Klavier ohne Störgeräusche von außen

Mit der Bezeichnung seiner Bauten als Luftschlösser hat der Architekt kein Problem. „Mir ist es gelungen, ein Luftschloss wirklich zu bauen. Ich bin früher auch als Zauberkünstler aufgetreten. Ich wollte immer schon etwas ermöglichen, das eigentlich unmöglich ist. Mir geht es nicht nur ums Träumen, sondern der Traum wird Wirklichkeit.“

Das Innsbrucker Zentrum aut.architektur und tirol widmet dem Pionier des Bauens mit Luft die erste umfassende Schau in Österreich.