Gurgl im Ötztal
Ötztaler Museen
Ötztaler Museen
Kultur

Instagram-Hotspots vor 150 Jahren

Eine fotografische Zeitreise in das Tirol am Ende des 19. Jahrhunderts bietet ein historisches Fotoalbum. Das kostbare, neun Kilogramm schwere Prachtexemplar tauchte im Archiv der Ötztaler Museen auf. Die Stativlöcher der Fotografen von damals entsprechen zum Teil den Hotspots der Influencerinnen von heute.

Der imposante Rotmoosferner in den Ötztaler Alpen – für dieses Motiv, das heute mit einem kurzen Klick festgehalten und sofort verbreitet werden kann, benötigten der auf hochalpine Aufnahmen spezialisierte Fotograf Gustav Jägermayer und sein Team um 1884 gleich mehrere Wochen. Das beindruckende Bild ist Teil des soeben erschienenen Buches „Nordtirol und seine Nachbarn“ aus dem Atelier Karl Friedrich Würthle.

Fotostrecke mit 7 Bildern

Rotmoosferner
Ötztaler Museen
Der Rotmoosferner oberhalb von Obergurgl von der Hohen Mut aus betrachtet
Gletscher Ötztal
Ötztaler Museen
Diese Aufnahme entstand um 1884 – der Höchststand der Vergletscherung der Ötztaler Alpen war um 1850
Wildspitze
Ötztaler Museen
Die 3768 Meter hohe Wildspitze vom Ramoljoch aus aufgenommen
Brennerbahn
Ötztaler Museen
Die Brennerbahn wurde in den Jahren 1864 bis 1867 erbaut, hier die Gleise oberhalb der Sillschlucht, südlich des Bergisel
Arlbergbahn
Ötztaler Museen
Die Konstruktionen für die Eisenbahn galten als Symbol für eine moderne, komfortable Form des Reisens
Brennerbahn
Ötztaler Museen
Matrei am Brenner
Arlberg Bahn
Ötztaler Museen
St. Anton am Arlberg, die Arlbergbahn wurde 20 Jahre nach der Brennerbahn gebaut

Buchtipp

„Fotografische Zeitreise
durch Tirol aus dem Atelier
K.F. Würthle“,
Studienverlag 2022

Das in den Jahren 1872 bis 1886 entstandene kostbare Konvolut umfasst 136 feinsäuberlich eingeklebte und mit der Hand beschriftete, großformatige Aufnahmen in Schwarz-Weiß. Das Album bietet eine fotografische Zeitreise in die Tiroler Vergangenheit vor 150 Jahren. Die Tour beginnt mit Sehenswürdigkeiten in und rund um Innsbruck, führt dann in das hintere Stubaital und anschließend hoch hinauf in die Ötztaler Bergwelt und weiter nach Vorarlberg, Südbayern und Salzburg.

Zu sehen sind faszinierende Gletscherlandschaften, einsame Täler, idyllische Dörfer sowie die zur Zeit der Aufnahmen gerade neu eröffneten Bahnstrecken über den Brenner oder den Arlbergpass.

Edith Hessenberger
ORF
Edith Hessenberger hat das neun Kilogramm schwere Album „Nordtirol und Nachbarn“ herausgegeben

Einmaliger Schatz

Aus lichttechnischen Gründen wäre es nicht vertretbar, das Original in einer Dauerausstellung zu präsentieren, sagt Edith Hessenberger, Leiterin der Ötztaler Museen in Längenfeld. Daher hat sie sich entschieden, die aus mehreren Blickwinkeln interessanten Dokumente zu veröffentlichen. Das Museumsobjekt ruht wieder sicher im Depot.

Laut der Kulturwissenschaftlerin gäbe es keine vergleichbaren Alben in anderen Sammlungen. Das Original hat die Maße von 48 x 35 x 8 Zentimeter und wiegt neun Kilogramm. Auch nach Recherchen in Archiven und Museen in Paris oder London sei ihr nichts in diesem Umfang untergekommen, erklärt Hessenberger, sie sei aber für Hinweise dankbar.

Frühe Tirol Werbung

Wer das in der Produktion sicher sehr kostspielige Album damals in Auftrag gegeben hat, und für wen es ursprünglich gedacht gewesen ist, bleibt unklar. Als Reisemitbringsel ist es wohl etwas zu unhandlich. Die idealisierten Landschaftsaufnahmen lassen auf Marketingzwecke schließen. Die französische Beschriftung könnte darauf hinweisen, dass man eventuell mit diesem Image-Album französische Touristen für die Ostalpen begeistern wollte. Die mit großem Aufwand entstanden einzelnen Aufnahmen wurden als Werbemittel verbreitet. Sie sind die Vorgänger der später massenhaft produzierten Postkarten.

Der Auftakt zum Overtourism

Die festgehaltenen Motive wiederholen sich. Die Fotografen merkten bald, dass auch kleine Perspektivenwechsel beim Publikum nicht so gut ankamen, daher installierten sie ihre schweren Kameras in den immer wieder gleichen Hotspots.

So sei das eigentlich bis heute, stellt Hessenberger fest. „Das Phänomen, das wir heute als Overtourism negativ empfinden, hat damals eigentlich schon seinen Anfang genommen, dieses Phänomen des Tourismus, bei dem man immer das Gleiche sucht und dennoch das Bedürfnis hat, anders zu sein. Leider wird dadurch oftmals sogar das Gesuchte zerstört. Da wird mit vermeintlicher Einsamkeit gelockt, doch dann tummeln sich dort Scharen von Touristinnen, die sich alle anstellen, um das gleiche Bild zu schießen.“

Fotostrecke mit 7 Bildern

Neuschwanstein
Ötztaler Museen
Schloss Neuschwanstein, schon damals ein Touristen-Hotspot
Gurgl im Ötztal
Ötztaler Museen
Obergurgl, das höchste Kirchdorf Österreichs besteht 1884 aus wenigen Bauernhäusern
Maria Theresien Strasse
Ötztaler Museen
Die Maria Theresien Strasse vom Fotografen mit möglichst wenigen Menschen in Szene gesetzt
St. Christoph am Arlberg
Ötztaler Museen
St. Christoph am Arlberg, das Hospiz verlor durch den Bau des Arlbergtunnels an Bedeutung
Schloss Ambras
Ötztaler Museeen
Schloss Ambras
Lermoos
Ötztaler Museen
Lermoos
Wilder Kaiser
Ötztaler Museen

Meister der Retusche

Der Fotograf und Herausgeber Karl Friedrich Würthle, ein erfolgreicher Platzhirsch auf dem österreichischen Verleger-Markt, wurde von seinen Zeitgenossen als „Meister der Retusche“ bezeichnet. Lästige Details ließ er kurzerhand aus den Bildern verschwinden. Die damals in den Talfurchen schon vorhandenen Industriebauten stören keineswegs die heile Tiroler Welt.

Nur die Eisenbahngleise und die Brücken zeigte man stolz, als Symbole für das komfortable, sichere und moderne Reisen. Die Aufnahmen bieten Einblicke in die touristischen Lebenswelten der 1880er Jahre.

Tirol voller Klischees

Die Innsbrucker Maria Theresien Straße ist menschenleer. Tirolerinnen werden stereotypisiert im Dirndl, etwa in der Zillertaler Tracht abgebildet. Vor der imposanten Gletscherwelt dienen Menschen nur als Staffage im Vordergrund, um die Dimensionen zu veranschaulichen. In der Zeit der frühen Tourismuswerbung entstehen Bilder, die uns bis heute prägen.

Fotografen auf Landschaftsreise

Ursprünglich als Stahlstecher ausgebildet verband der aus Konstanz stammende Fotograf und Verleger Karl Friedrich Würthle seine persönliche Begeisterung für die Berge mit dem technischen Interesse. Immer auf dem neuesten Stand setzte Würthle auf das nach der Darguerreotypie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete nasse Kollodiumverfahren. Dabei musste das Dunkelkammerzelt auch im Gebirge immer mit dabei sein.

Die Fotografen brachen in Gruppen zu Expeditionen ins Hochgebirge auf. Träger und Maulesel schleppten die teilweise mehr als 100 Kilogramm schwere Ausrüstung in die Höhe. Karl Friedrich Würthle war der erste, der das Weitwinkel-Objektiv bei seiner künstlerischen Arbeit eingesetzt hat. Der kunstsinnige Fotograf war auch als Unternehmer erfolgreich.

Edith Hessenberger
ORF
Kulturwissenschaftlerin Edith Hessenberger von den Ötztaler Museen

Auch wenn die Publikation keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse liefert, so ist es für Tirol-Kenner vielleicht reizvoll, beim Durchblättern die massiven Veränderungen in Berg und Tal zu beobachten. In den letzten 150 Jahren hat sich das Land wohl mehr verändert als in all den Jahren zuvor. In Zeiten der Beschränkungen von realen Reisen bietet das neue Buch eine Alternative als Bilderreise.