Der imposante Rotmoosferner in den Ötztaler Alpen – für dieses Motiv, das heute mit einem kurzen Klick festgehalten und sofort verbreitet werden kann, benötigten der auf hochalpine Aufnahmen spezialisierte Fotograf Gustav Jägermayer und sein Team um 1884 gleich mehrere Wochen. Das beindruckende Bild ist Teil des soeben erschienenen Buches „Nordtirol und seine Nachbarn“ aus dem Atelier Karl Friedrich Würthle.
Buchtipp
„Fotografische Zeitreise
durch Tirol aus dem Atelier
K.F. Würthle“,
Studienverlag 2022
Das in den Jahren 1872 bis 1886 entstandene kostbare Konvolut umfasst 136 feinsäuberlich eingeklebte und mit der Hand beschriftete, großformatige Aufnahmen in Schwarz-Weiß. Das Album bietet eine fotografische Zeitreise in die Tiroler Vergangenheit vor 150 Jahren. Die Tour beginnt mit Sehenswürdigkeiten in und rund um Innsbruck, führt dann in das hintere Stubaital und anschließend hoch hinauf in die Ötztaler Bergwelt und weiter nach Vorarlberg, Südbayern und Salzburg.
Zu sehen sind faszinierende Gletscherlandschaften, einsame Täler, idyllische Dörfer sowie die zur Zeit der Aufnahmen gerade neu eröffneten Bahnstrecken über den Brenner oder den Arlbergpass.
Einmaliger Schatz
Aus lichttechnischen Gründen wäre es nicht vertretbar, das Original in einer Dauerausstellung zu präsentieren, sagt Edith Hessenberger, Leiterin der Ötztaler Museen in Längenfeld. Daher hat sie sich entschieden, die aus mehreren Blickwinkeln interessanten Dokumente zu veröffentlichen. Das Museumsobjekt ruht wieder sicher im Depot.
Laut der Kulturwissenschaftlerin gäbe es keine vergleichbaren Alben in anderen Sammlungen. Das Original hat die Maße von 48 x 35 x 8 Zentimeter und wiegt neun Kilogramm. Auch nach Recherchen in Archiven und Museen in Paris oder London sei ihr nichts in diesem Umfang untergekommen, erklärt Hessenberger, sie sei aber für Hinweise dankbar.
Frühe Tirol Werbung
Wer das in der Produktion sicher sehr kostspielige Album damals in Auftrag gegeben hat, und für wen es ursprünglich gedacht gewesen ist, bleibt unklar. Als Reisemitbringsel ist es wohl etwas zu unhandlich. Die idealisierten Landschaftsaufnahmen lassen auf Marketingzwecke schließen. Die französische Beschriftung könnte darauf hinweisen, dass man eventuell mit diesem Image-Album französische Touristen für die Ostalpen begeistern wollte. Die mit großem Aufwand entstanden einzelnen Aufnahmen wurden als Werbemittel verbreitet. Sie sind die Vorgänger der später massenhaft produzierten Postkarten.
Der Auftakt zum Overtourism
Die festgehaltenen Motive wiederholen sich. Die Fotografen merkten bald, dass auch kleine Perspektivenwechsel beim Publikum nicht so gut ankamen, daher installierten sie ihre schweren Kameras in den immer wieder gleichen Hotspots.
So sei das eigentlich bis heute, stellt Hessenberger fest. „Das Phänomen, das wir heute als Overtourism negativ empfinden, hat damals eigentlich schon seinen Anfang genommen, dieses Phänomen des Tourismus, bei dem man immer das Gleiche sucht und dennoch das Bedürfnis hat, anders zu sein. Leider wird dadurch oftmals sogar das Gesuchte zerstört. Da wird mit vermeintlicher Einsamkeit gelockt, doch dann tummeln sich dort Scharen von Touristinnen, die sich alle anstellen, um das gleiche Bild zu schießen.“
Meister der Retusche
Der Fotograf und Herausgeber Karl Friedrich Würthle, ein erfolgreicher Platzhirsch auf dem österreichischen Verleger-Markt, wurde von seinen Zeitgenossen als „Meister der Retusche“ bezeichnet. Lästige Details ließ er kurzerhand aus den Bildern verschwinden. Die damals in den Talfurchen schon vorhandenen Industriebauten stören keineswegs die heile Tiroler Welt.
Nur die Eisenbahngleise und die Brücken zeigte man stolz, als Symbole für das komfortable, sichere und moderne Reisen. Die Aufnahmen bieten Einblicke in die touristischen Lebenswelten der 1880er Jahre.
Tirol voller Klischees
Die Innsbrucker Maria Theresien Straße ist menschenleer. Tirolerinnen werden stereotypisiert im Dirndl, etwa in der Zillertaler Tracht abgebildet. Vor der imposanten Gletscherwelt dienen Menschen nur als Staffage im Vordergrund, um die Dimensionen zu veranschaulichen. In der Zeit der frühen Tourismuswerbung entstehen Bilder, die uns bis heute prägen.
Fotografen auf Landschaftsreise
Ursprünglich als Stahlstecher ausgebildet verband der aus Konstanz stammende Fotograf und Verleger Karl Friedrich Würthle seine persönliche Begeisterung für die Berge mit dem technischen Interesse. Immer auf dem neuesten Stand setzte Würthle auf das nach der Darguerreotypie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete nasse Kollodiumverfahren. Dabei musste das Dunkelkammerzelt auch im Gebirge immer mit dabei sein.
Die Fotografen brachen in Gruppen zu Expeditionen ins Hochgebirge auf. Träger und Maulesel schleppten die teilweise mehr als 100 Kilogramm schwere Ausrüstung in die Höhe. Karl Friedrich Würthle war der erste, der das Weitwinkel-Objektiv bei seiner künstlerischen Arbeit eingesetzt hat. Der kunstsinnige Fotograf war auch als Unternehmer erfolgreich.
Auch wenn die Publikation keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse liefert, so ist es für Tirol-Kenner vielleicht reizvoll, beim Durchblättern die massiven Veränderungen in Berg und Tal zu beobachten. In den letzten 150 Jahren hat sich das Land wohl mehr verändert als in all den Jahren zuvor. In Zeiten der Beschränkungen von realen Reisen bietet das neue Buch eine Alternative als Bilderreise.