Der Innsbrucker Historiker Niko Hofinger hat eine ungewöhnliche Recherchemethode, um sich ein erstes Bild von einer neuen Stadt zu machen. Auf Reisen konsultiert er keinen Führer, er schmökert in Telefonbüchern.
Im Hotel habe er früher immer als erstes in das Nachtkästchen gegriffen, ob sich ein Telefonbuch darin befände, erzählt Hofinger. In seinen Augen sei das der neutralste Reiseführer. So schnell würde man nirgends einen ersten Überblick über den Charakter einer Stadt bekommen. Die Einträge erzählen, ob eine Stadt touristisch geprägt ist, welche politischen Einrichtungen es gibt oder welche Unternehmerinnen inserieren.

Frauen sind anfangs unsichtbar
Die im Innsbrucker Stadtarchiv aufbewahrten Adressbücher sind die Vorläufer der bis heute bekannten gelben Telefonbücher. Die Stadt hat sie in den Jahren 1898 bis 1976 herausgegeben. Die Buchrücken der ersten Ausgaben sind noch relativ schmal. Das habe einen bestimmten Grund, erklärt der Historiker. Anfangs wird nur der männliche Haushaltsvorstand eingetragen, die Ehefrauen bekommen keinen Platz. Nur honorige Stadtbewohner wie Ärzte, Advokaten oder Hausbesitzer werden aufgenommen. Lehrlinge, Dienstboten und Frauen kommen nicht vor.
Wo sind die anderen?
„Um 1900 leben in Innsbruck ungefähr 50.000 Einwohnerinnen, doch nur 8.000 davon schaffen es ins Adressbuch“, erklärt Hofinger. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg finden auch die „anderen“ Bewohnerinnen Aufnahme in die Adressbücher.
Die Innsbrucker Gesellschaft bleibt lange konstant und konservativ geprägt. Neben den Namen der Frauen sind häufig die Bezeichnungen „Hausfrau“ oder „Witwe“ zu lesen. Unter dem Stichwort „Witwe“ ploppen in der Datenbank 67.000 Einträge auf, „Witwer“ kommen dagegen nur zweimal vor.
Neuer Blick auf die Wirtschaftsgeschichte
Aus den vermeintlich langweiligen Dateien lassen sich wesentlich mehr Informationen über die Stadt herauslesen, als nur Namen und Adressen. Wirtschaftliche Veränderungen werden offensichtlich. Im Jahr 1938 tauchen zum Beispiel 300 Einträge zum Beruf „Schuhmacher“ auf. Im letzten erschienenen Band aus dem Jahr 1976 ist diese Berufsgruppe gerade noch mit 21 Handwerkern vertreten. Ebenso ergeht es den Schneiderinnen. Vielleicht werden zukünftige Forscherinnen einmal feststellen, dass in den Pandemiejahren die Einträge von Wunderheilerinnen zunehmen?
Innsbruck, eine Beamten- und Garnisonsstadt
Die unterschiedlichen Mitarbeiter der k. u. k. Staatsbahn füllen viele Seiten. Da wimmelt es von Spezialisten, die sich um Weichen kümmern aber auch Oberstaatsbahnräte sind vermerkt. Nach dem „Anschluss“ im Jahr 1938 wird die Staatsbahn in Reichsbahn umbenannt. Nach dem Krieg wird sie dann zur ÖBB. All das lässt sich auch von den unterschiedlichen Berufsbezeichnungen ablesen.
Für Hofinger ergibt sich ein neues Bild von Innsbruck: eine Stadt, in der viele Bahnbedienstete, Verwaltungsbeamte aber auch Militärangestellte leben. „Ich hatte das nicht so am Radar“, erklärt er, „Innsbruck wurde ursprünglich an der Innbrücke erbaut. Dann geschah 600 Jahre lang wenig. Mit der Gründung der Eisenbahn wurde die Stadt zum wichtigen Verkehrsknotenpunkt. Vom Weichenwärter bis zum Conducteur sind unzählige Arbeiter mit der Aufrechterhaltung des Systems beschäftigt.“ Ein eindrucksvoller, in die Datenbank aufgenommener Stadtplan zeigt die Bombentreffer aus den Jahren 1943 bis 1945. Die dunkel markierten Abwurfstellen konzentrieren sich auf die zentralen Gleisanlagen rund um den Hauptbahnhof.

Aus Franz wird Mohammed
Auch die Migrationsgeschichte lässt sich aus den Adressbüchern herausfiltern. Bis in die 1960er Jahre lauten die eingetragenen Vornamen der Hilfsarbeiterinnen Franz, Josef oder Maria. Mit den Arbeitsabkommen mit Jugoslawien und der Türkei tauchen ab der Mitte der 1960er Jahre neue Namen auf: Dragica, Ali oder Mohammed.
Niko Hofinger hat den ersten Lockdown genützt, um gemeinsam mit Peter Helfer die neue Plattform zu entwickeln und zu programmieren. Helfer forscht seit zehn Jahren intensiv an diesem Thema. Er weiß, welche Straßen wann und wie umbenannt worden sind. Die heutige Salurnerstraße hatte früher sogar zwei Namen. Im Süden hieß sie Wiltener Grenzstrasse und im Norden war es die Innsbrucker Maximilianstrasse. Jedes Haus bekommt in der Datenbank eine eigene ID Nummer, damit man den Platz trotz mehrmaliger Änderungen von Namen oder Hausnummern verlässlich wiederfindet.

Einmaliges Projekt
Das durchdachte Projekt sei einzigartig im deutschsprachigen Raum, betont Hofinger. Hier wurden nicht nur PDF-Scans online gestellt, wie in anderen Städten üblich. In diesem System kann man vernetzt suchen. „Ich muss mir nicht 80 Bücher runterladen, um herauszufinden, wann meine Großeltern nach Innsbruck gekommen und wie oft sie umgezogen sind“, erklärt Hofinger, „der Vorteil dieser Datenbank ist, dass man sie querlesen kann.“

Der Stadt beim Wachsen zuschauen
Durch das Übereinanderlegen von historischen Plänen lässt sich die bauliche Entwicklung von Innsbruck anschaulich nachvollziehen. Der mittelalterliche Kern rund um die Innbrücke wird bald zu klein. Wilten wird eingemeindet, Pradl wächst und nach dem Zweiten Weltkrieg verschlingt die Stadt die Felder und Wiesen in der Reichenau. In den 1950er Jahren sind nur 100 Bewohnerinnen in der Reichenauer Straße gemeldet, 1976 sind es bereits mehr als 2.000. So wird das Wachsen der Stadt auch durch die Adressbücher sichtbar.

Häuser haben viel zu erzählen
Die große Weltgeschichte ist auch an einzelnen Adressen ablesbar. Am Rennweg 10 lässt sich der Cafetier und Branntweinfabrikant Hugo Schindler von dem renommierten Berliner Architekten Hermann Muthesius eine elegante Villa im englischen Landhausstil bauen. Doch der Name Schindler steht nicht lange im Adressbuch. 1938 wird die jüdische Unternehmerfamilie aus Innsbruck vertrieben.
Bald darauf taucht ein anderer Name am Rennweg 10 auf. Der ehemalige Radiohändler Franz Hofer wollte immer schon in dieser Villa wohnen. Als Gauleiter residiert er dort bis zum Ende der NS-Diktatur.
„Schlaue“ Datenbank
Hofinger will und kann nicht alle Fragestellungen vorausdenken. Der bereits jahrelang in der Familienforschung tätige Historiker lässt seine Erfahrungen einfließen. Akribisch und lustvoll bereitet er das System auf die Fragen der zukünftigen Benützerinnen vor. Wer hat diese Stadt erbaut? Wann ist eine Familie erstmals nach Innsbruck gekommen? In welchen Stadtteilen haben sich welche Berufsgruppen angesiedelt? Welches spezielle Kleinklima macht den Stadtteil Pradl unverwechselbar? Je länger er sich in diese Quellen vertiefe, desto mehr Fragen würden ihm einfallen, schmunzelt Hofinger. Insgesamt sind 1,2 Millionen Personen in den knapp hundert Jahren gespeichert.
Der Datenschutz sei in diesem Fall kein Problem, denn im Grundbuch sind auch heute die Namen von Hausbesitzerinnen abrufbar. Die auf der Homepage publizierten Daten reichen nur bis ins Jahr 1976. Man bleibe also in der Geschichte und würde niemandem auf den Schlips treten, so Hofinger.
Der einfachste aber dennoch prickelnde erste Schritt ist es, den eigenen Familiennamen in die Datenbank einzutippen. Vielleicht ergibt sich daraus frischer Gesprächsstoff für die Familientreffen an den Feiertagen. Details, die nicht nur Expertinnen interessieren sondern wohl viele etwas ältere Innsbruckerinnen berühren.