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Kultur

Die unsichtbare Geschichte der Jenischen

Was „jenisch“ bedeutet, wissen heute nur wenige. Viel besser bekannt sind die Schimpfworte „Karrner“ oder „Laninger“. Gemeint sind sogenannte „Fahrende“, die keinen festen Wohnsitz hatten. Von den Jenischen in Tirol gibt es kaum noch Spuren. Mit einer aktuellen Ausstellung in den Ötztaler Museen in Längenfeld und einem Buch will man die Geschichte der Jenischen vor dem Vergessen bewahren.

Sieglinde Schauer-Glatz wurde schon als Baby in eine Pflegefamilie im Ötztal gegeben. Als uneheliches Kind jenischer Eltern wuchs sie bei einer Bäuerin im Ortsteil Huben in der Gemeinde Längenfeld auf und musste von klein auf hart arbeiten. Ihre leibliche Mutter, Maria Glatz war als fahrende Händlerin unterwegs und verkaufte im Tiroler Oberland Textilien, die sie aus Vorarlberg holte.

Herkunft unbekannt

Lange hatte die 1948 in Haiming geborene und heute als Schriftstellerin tätige Sieglinde Schauer-Glatz keine Ahnung von ihren Wurzeln. Weder ihre leibliche Mutter, die ab den 1960er Jahren im Innsbrucker Lager in der Reichenau gelebt hat, noch die Ötztaler Pflegemutter haben jemals mit ihr darüber gesprochen.

Sieglinde Schauer-Glatz
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Sieglinde Schauer-Glatz hat das Theaterstück „Fremd in der eigenen Heimat“ geschrieben und inszeniert

„Wem gehört denn das Madele?“

Schon als Kind hat Schauer-Glatz an den Reaktionen der anderen Kinder im Dorf gespürt, dass an ihr irgendetwas anders war. „Wie sie mich angeschaut haben, war eigenartig“, erzählt die 73-Jährige in einer heimeligen Stube in den Ötztaler Museen in Längenfeld. In so einer schön getäfelten Stube hätte eine fahrende Familie nie wohnen können. Hinter ihrem Rücken sei damals getuschelt worden, erinnert sie sich und man habe gefragt, „wem gehört denn das Madele?“ Sie habe als Kind nicht das Gefühl gehabt, „etwas Positives“ zu sein.

Ausgrenzung aus der Dorfgemeinschaft

Die Kirche sei immer schon gegen die Jenischen gewesen, betont Schauer-Glatz. „Der Pfarrer von Huben hat mich nicht wohlwollend betrachtet. An mir hat er´s schon ausgelassen, aber ich war hart im Nehmen.“

Erst als der jenische Autor Romed Mungenast in den späten 1990er Jahren begonnen hat, die Geschichte der Jenischen in Tirol zu erforschen, die Kultur zu dokumentieren und auch Gedichte in ihrer Sprache zu veröffentlichen, wurde die inzwischen in Innsbruck lebende Mutter von drei Kindern hellhörig. Sie habe es erst einmal hinunter geschluckt. „Das war die härteste Zeit für mich“, erinnert sie sich. Die leidvolle Geschichte der Ausgrenzung ihrer Vorfahren habe ihr zu schaffen gemacht. Doch die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, das Schreiben von Gedichten und ihr Engagement für die Initiative Minderheiten habe ihr letztendlich geholfen.

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Unbekannte Ahnen von Sieglinde Schauer-Glatz, die schwangere Frau raucht eine große, gekrümmte Pfeife
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Nur wenige Fotografien aus privaten Alben sind erhalten
Scherenschleifgerät
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Das Scherenschleifen ist einer der mobilen Berufe
Bild Rosshändler
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Die Fahrenden verdingten sich auch als Rosshändler
Stube
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Es war schwer, Objekte für die Ausstellung in den Ötztaler Museen in Längenfeld zu finden

Die Ausstellung im Heimatmuseum im Ortsteil Lehn der Gemeinde Längenfeld und das soeben erschienene Buch „Fahrend? Um die Ötztaler Alpen“ seien für sie wunderbar, freut sich Sieglinde Schauer-Glatz. Das sei eine großartige Unterstützung.

Hinweis:
Der Band „Fahrend? Aspekte jenischer Geschichte in Tirol“ liegt im Studienverlag vor

Vielschichtige Aufarbeitung

Die Kulturwissenschafterin Edith Hessenberger geht das heikle Thema fundiert an. Sie hat elf Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Fachbereichen eingeladen, ihren aktuellen Forschungsstand beizutragen. In der Publikation geht es um Themen wie Migration und Mobilität genauso, wie um die von dem Innsbrucker Zeithistoriker Horst Schreiber untersuchte Geschichte der Jenischen im Nationalsozialismus.

Sie wurden als sogenannte „Asoziale“ verfolgt und ermordet. Auch nach 1945 wurden Jenische weiter diskriminiert, etwa durch Kindeswegnahmen durch die Jugendwohlfahrt. Die Kinder wurden in Heimen untergebracht oder sie kamen zu Pflegfamilien.

Edith Hessenberger
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Museumsleiterin Edith Hessenberger widerlegt die verbreitete Annahme, dass es im Ötztal keine Jenischen gegeben hätte

Streiten wie die „Karrner“

Der Begriff der Jenischen wird am Anfang des 18. Jahrhunderts erstmals schriftlich erwähnt. Sie selbst haben sich wohl schon wesentlich früher so bezeichnet. Landläufig werden die Fahrenden als „Karrner“, „Laninger“ oder „Dörcher“ beschimpft. Das musste auch Sieglinde Schauer-Glatz immer wieder persönlich erfahren. Gängige Tiroler Sprüche lauten heute noch „Streiten wie die Karrner“ oder „Von Telfs bis Schönwies ist das Karrner-Paradies“.

Die Ursachen für die Verarmung dieser Tirolerinnen und Tiroler sind vielfältig. Ein Grund ist die im Oberland praktizierte Realteilung. Die Aufsplitterung des Erbes unter den Nachkommen führte in Einzelfällen zur Verarmung. Einige waren gezwungen, mit dem Wenigen, das sie besaßen, loszuziehen. Sie wurden immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt.

Viele ungeklärte Fragen

Auch nach der intensiven Beschäftigung mit den Jenischen, bleiben einige Fragen offen, etwa zum Thema der Zugehörigkeit. „Ist jemand mit jenischen Ahnen heute noch jenisch? Ist ein Fahrender automatisch ein Jenischer?“ Diese Fragen lassen sich nur schwer klären und werden auch von vielen, die sich selbst als Jenische bezeichnen, unterschiedlich beantwortet. Nur in der Schweiz sind die Jenischen als nationale Minderheit anerkannt. In Österreich und anderen europäischen Ländern gibt es Anerkennungsbestrebungen.

Ötztaler Museen
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Die Ausstellung ist im Heimatmuseum in Längenfeld zu sehen

Scheinbar spurlose Geschichte

Für die Gestaltung der Ausstellung war es nicht einfach, aussagekräftige Objekte zu finden. „Die Geschichte der Armut hinterlässt wenige Spuren“, erklärt Hessenberger. Ein typischer hölzerner Karren oder Gratten steht im Mittelpunkt der kleinen Schau. Darüber ist eine „Wolke der Erinnerung“ inszeniert, rare Fotografien, die sich in den wenigen privaten Alben erhalten haben. Da sie zu wenig Geld hatten, um sesshaft zu werden, arbeiteten die Fahrenden als Scherenschleifer, Regenschirm- oder Pfannenflicker, Korbflechter oder als Rosshändler.

Ausstellung
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Die Jenischen haben wenige Spuren hinterlassen, der typische Karren steht im Mittelpunkt der Schau

Zwischen Diskriminierung und Romantisierung

Im 18. Jahrhundert mussten Jenische als beliebte Motive auf idyllischen Landschaftsdarstellungen oder als volkstümliche Krippenfiguren herhalten. Es war der neidische und auch verklärende Blick der sesshaften, in einen strengen Alltag gezwängten Bauern auf diese angeblich so frei lebenden und liebenden Menschen. Im 19. Jahrhundert schmückten wohlhabende Bürger ihre Kommoden mit niedlichen Darstellungen von verarmten Fahrenden aus teuren Materialien gefertigt.

Figuren
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Ein Widerspruch: Figuren von bettelnden Musikanten aus kostbarem Elfenbein und Ebenholz

In einem kleinen, in der Ötztaler Schau gezeigten Heft, dokumentierten Volksschullehrer aus unterschiedlichen Gemeinden, die kurze Anwesenheit eines jenischen Mädchens. Sie saß immer nur wenige Tage auf einer Schulbank. So kann die erstaunliche Strecke nachgezeichnet werden, die ihre Familie in den 1930er Jahren in nur wenigen Wochen zurückgelegt hat. Diese Umstände erklären die teilweise mangelnde Schulbildung.

Schultagebuch
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In dieses Heft wurde einem jenischen Mädchen der Schulbesuch bestätigt. Sie blieb meist nur wenige Tage in einer Gemeinde.

Die Liste der Vorurteile ist lang

„Dass gestohlen wird, dass man keine genehmigte Behausung hat, dass hygienische Standards nicht erfüllt werden, dass Menschen unverheiratet viele Kinder bekommen. All das sind klassische Zuschreibungen, die vielleicht auf viele Familien zugetroffen haben, doch das lässt sich ganz klar aus den Umständen erklären“, schildert Hessenberger.

„Diese Menschen durften nicht heiraten, weil sie keine Lebensgrundlage hatten. Daher waren sie gezwungen, ledige Kinder zu zeugen. Diese Menschen durften keine Häuser bauen. Man hatte Angst, dass sie das Heimatrecht bekommen, wenn sie sesshaft werden. Das Heimatrecht würde dann auf die Kinder übergehen und dann wäre die Gemeinde für die Versorgung verantwortlich. Viele hart arbeitende Bürger hatten Angst, dann für diese Heimatlosen zahlen zu müssen. Daher hat man immer geschaut, dass man sie los wird. Niemand wollte sie haben, aus Angst dass ihre Armut einem selber etwas wegnehmen könnte“, beschreibt Hessenberger die Situation.

Jenische vor Zelt
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Kein Campingurlaub am Pillersee, sondern das Wohnzelt von Familie Haslacher, Mitte der 1960er Jahre

Aktuelle Zahl der Jenischen in Tirol unbekannt

Wie viele Menschen mit jenischen Wurzeln heute in Tirol leben, könne niemand sagen, bedauert Sieglinde Schauer-Glatz. In den 1970er Jahren sind die letzten Fahrenden verstorben. Ihre Nachkommen leben großteils gut integriert und nicht alle sind an ihrer eigenen Geschichte interessiert. Die Autorin schreibt zwar Gedichte auf jenisch, doch sie kennt niemanden, der die Sprache heute noch fließend spricht. Sie würde sich wünschen, dass sich viele Menschen zu ihren jenischen Wurzeln bekennen und stolz darauf sind.

Ziele der Ausstellung

Edith Hessenberger sieht die Schau auch als Warnung vor Ausgrenzung und Marginalisierung heute. „Man hat oft das Gefühl, dass es logisch ist, wenn jemand eine andere Sprache spricht, oder eine andere Hautfarbe hat, dass der ausgegrenzt wird. Doch dass es auch mit Menschen passiert, die Tiroler Namen haben, die eine Tiroler Geschichte haben, die immer nur hier im Land waren und nie weggekommen sind, zeigt deutlich, was in unserer Gesellschaft möglich ist und worauf wir achten sollten,“ so Hessenberger. Mit der kleinen Ausstellung im Heimatmuseum und dem Buch gelingt es, Aspekte dieser fast vergessenen Geschichte von Tirolerinnen und Tirolern in Erinnerung zu rufen.