Verkehrsschilder Füssen Pfronten vorbeibrausende Autos
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Chronik

Grenze raubt Außerfernern den letzten Nerv

Ist der Corona-Test nur um wenige Minuten abgelaufen, kommt man weder zur Arbeit noch heim zur Familie. Das Allgäu und das Außerfern bilden seit langem eine europäische Region, in der die aktuelle Grenzregelung wie eine Mauer wirkt. Die Bürger dort fühlen sich im täglichen Leben schikaniert.

Die Schulen im Bezirk, darunter ein Gymnasium, eine Berufsschule oder ein Polytechnische Schule wurden von Kindern auch aus dem Allgäu besucht – bis Mitte Februar. Andrea Bailom, Leiterin der Volksschulen Musau und Vils, berichtet von einem Kind, das nicht mehr kommt.

leeres Klassenzimmer Volksschule
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Einreise mit negativem Test und online-Anmeldung? Manche Familien wollen sich diesen Spießroutenlauf nicht antun.

Die Familie hat je einen Wohnsitz in Tirol und Bayern, als die Grenzschließung eine Festlegung erforderte, entschied man sich für Bayern. Ähnliche Fälle gibt es auch an anderen Schulen. Gerade jüngere Kinder seien durch die hochgefahrenen Grenzen belastet, sie können – je nach Wohnort – Großeltern und Freunde nicht mehr sehen.

Ärger über realitätsferne Vorschriften

Viele Außerferner ärgert die alltagsferne Auslegung der Verordnung. Ein PCR-Test darf für den Grenzübertritt nicht älter als 48 Stunden sein, aber wer z.B. bei der Arbeit aufgehalten wird und sich um 20 Minuten verspätet, kommt damit schon nicht mehr durch. Dazu kommen die spärlichen Testmöglichkeiten auf bayerischer Seite. Wer einen Test macht, wartet unter Umständen zwölf Stunden auf das Ergebnis und muss dieses dann in der Arztpraxis selbst abholen. Rasch irgendwo testen, um über die Grenze zu Familie oder Arbeitsplatz kommen, geht nicht.

Das Online-Einreise-Formular für Bayern war zuletzt mehrere Tage außer Betrieb. Und wer, egal auf welcher Seite der Grenze, als systemrelevant eingestuft wird, erhält damit zwar die Erlaubnis, für die Arbeit die Grenze zu passieren, verwirkt aber unter Umständen gleichzeitig seinen Anspruch auf Home-Office – systemrelevante Mitarbeiter können eben nur im Betrieb Dienst verrichten.

Regionales Mountainbike-Projekt liegt auf Eis

Im Büro der Naturpark Region Reutte stößt man längst an die Grenzen von Videokonferenzen. Grenzüberschreitender Tourismus wurde erstmals im Herbst blockiert, als Lechweg-Wanderer im gebuchten Hotel in Füssen nicht absteigen durften. Die Fertigstellung eines Mountainbike-Projektes Lechtal-Tannheim-Allgäu liegt auf Eis, da Routen-Scouting nicht möglich ist und Video-Sitzungen begrenzt erfolgreich sind, berichtet Geschäftsführer Ronald Petrini.

Von den drei Mitarbeiterinnen im Naturpark-Büro hat eine ihren Wohnsitz jenseits der Grenze. Bis die Buchhalterin als „systemrelevante“ Arbeitskraft definiert war und einen Pendlerschein erhalten hat, vergingen Tage, immer noch ist ihr Arbeitsweg ein Spießroutenlauf, das tägliche Erscheinen im Büro nicht gewiss.

Mangelhafte Verordnung gefährdete Tierwohl

Der Reitbetrieb von Sabine Petz in Vils bekam zu spüren, dass bei der Verordnung, die Tirol als Virusmutationsgebiet auswies und die Grenze de facto schloss, auf Tierversorgung und Tierwohl als Ausnahmegrund vergessen wurde. Plötzlich kamen Pferdehalter, die nur ein paar Kilometer weiter wohnen, nicht mehr ins Land, ihre Tiere, die regelmäßig Spezialfutter, Medikamente und insgesamt besondere Fürsorge benötigten, wurden nur notdürftig versorgt.

Frau versorgt Pferde auf einer Reitanlage
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Plötzlich war Sabine Petz alleine für 25 Pferde zuständig. In Bayern gab es zu diesem Zeitpunkt noch kaum Testmöglichkeiten.

Die Zuständigkeit für landwirtschaftliche Ausnahmen von Ein- und Ausreiserestriktionen konnte Petz tagelang nicht klären. Dass einzelne Pferdehalter aus dem Allgäu, getestet und angemeldet, mittlerweile doch zum Reitbetrieb kommen, ist laut Petz nicht garantiert und immer wieder auch von der Gesetzesauslegung der diensthabenden Grenzposten abhängig.

Tiroler einfach in Kurzarbeit geschickt

Wirtschaftlich betroffen sind in der Region z.B. Tiroler Mitarbeiter eines Metallbetriebes in Bayern, die von ihrem Dienstgeber in Kurzarbeit geschickt wurden.

Grafik mit Verkehrsverbindungen im Außerfern
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Sieben Straßen ins Allgäu, eine in den Tiroler Zentralraum: Die Metallindustrie bietet auf beiden Seiten viele Arbeitsplätze

Mehrere hundert Menschen aus dem Allgäu und dem Außerfern arbeiten dies- und jenseits der Grenze in Spitälern, Büros und Betrieben. Die wirtschaftliche Verschränkung spiegelt sich auch im Projekt „Industrie 4.0“ nieder, das die Digitalisierung im Maschinenbau zum Inhalt hat, 15 Außerferner und Allgäuer Betriebe nehmen teil, seit Mitte Februar ruht das Projekt.

Regionale, gemeinsame Lösung? Fehlanzeige

Das Außerfern mit seinen sieben Straßenverbindungen nach Bayern und einer einzigen in den Tiroler Zentralraum ist historisch mit dem Allgäu verbunden. Auch zahlreiche EU-Projekte trugen zum Selbstverständnis als grenzüberschreitende Region bei. In der Pandemiekrise, so Regionalmanager Günter Salchner, habe sich allerdings gezeigt, dass Europa kaum Problemlösungskompetenz habe.