Schülerin beim Distance Learning bzw. Fernunterricht zuhause
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Bildung

Experte: Lernrückstände durch Fernunterricht

Eine Studie der Uni Innsbruck belegt, dass sich die Bildungsschere durch den Fernunterricht noch weiter geöffnet hat. Zudem sei der Lernertrag bei Fernunterricht geringer als bei Präsenzunterricht, wodurch es längerfristig zu Lernrückständen komme, so Bildungsforscher Alfred Berger.

tirol.ORF.at: Die Oberstufen waren in diesem Semester nur gut ein Monat im Präsenzunterricht, die Unterstufen und Grundschulen ein wenig länger. Jetzt sind alle zumindest bis Semesterende im Fernunterricht. Kann da gewährleistet werden, dass der Lernstoff auch gelernt bzw. der Lehrplan erfüllt wird?

Alfred Berger: Aus Schweizer Studien ist bekannt, dass im ersten Lockdown die durchschnittliche Lernkurve geringer war als im Präsenzunterricht. Somit gibt es erste Erfahrungen, dass diese neue Situation zu einem geringeren Lernertrag führt. Wir wissen auch aus kanadischen Blizzard-Studien, wo aufgrund von Schneestürmen der Schulunterricht auf Distanzlearning umgestellt werden musste, dass der Fernunterricht für viele mit geringerem Lernertrag verbunden ist und nur zur Hälfte oder zwei Drittel wieder kompensiert werden kann. Wir müssen davon ausgehen, dass es längerfristig zu Lernrückständen kommt.

tirol.ORF.at: Betrachtet man die Tiroler Studie mit Schülerinnen und Schülern aus dem Zillertal, dann sticht etwas gleich ins Auge: Schülerinnen und Schüler mit mittlerem oder niedrigerem Leistungniveau konnten den Distanzunterricht deutlich schlechter bewältigen. Ist es also schon zu dem befürchteten Schereneffekt gekommen?

Den Schereneffekt kann man schon in verschiedenen Studien sehen. Auch in der Zillertaler Studie zeigt sich das. Diese Schülerinnen und Schüler haben viel öfter Mühe, den Tagesablauf zu strukturieren und Mühe, sich zu motivieren. Wir haben in unserer Längsschnittstudie festgestellt, dass die Lernmotivation, die die Schülerinnen und Schüler grundsätzlich aufweisen, ein wichtiger Indikator für die Bewältigung des Lockdowns war. Es setzt selbständiges Lernen und Lernstrategien voraus.

Alfred Berger
privat

Alfred Berger ist Erziehungswissenschafter mit Schwerpunkt Generationen-, Jugend- und Bildungsforschung. Er ist Mitautor der vom Land Tirol finanzierten Studie zur „Bewältigung des Distanzunterrichts während Covid-19 in der Modellregion Bildung Zillertal“. Bereits seit 2019 läuft eine Längsschnittstudie mit NMS-Schülerinnen und Schülern, wodurch direkte Vergleiche mit Vor-Corona-Zeiten ermöglicht werden.

tirol.ORF.at: In der Zillertaler Studie zeigte sich auch, dass es noch von weiteren Faktoren abhängt, wie gut das selbstständige Lernen im Fernunterricht bewältigt werden konnte.

Alfred Berger: Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache haben eher Schwierigkeiten. Zudem haben Buben mit dem Distanzunterricht größere Probleme als Mädchen. Auch Eltern spielen eine wichtige Rolle – wie sehr sie die Kinder beim Lernen unterstützen bwz. in ihren Unsicherheiten aufzufangen vermögen. Sehr wichtig ist, wie verfügbar die Lehrpersonen während des Distanzunterrichts sind.

Wir wissen, dass die Qualität des Fernunterrichts wesentlich zum Lernerfolg beiträgt. Etwa, ob die Lehrperson regelmäßig verfügbar ist, Unterstützung leistet, wie kompetent sie bei der Gestaltung des Fernunterrichts ist. Und auch wie oft sie Feedback gibt zu den Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Neben Lernorganisation und Lernbegleitung müssen die Lehrpersonen auch das soziale Miteinander so gut wie möglich gestalten. Damit sie den Kindern die sozialen Kontakte ermöglichen.

tirol.ORF.at: Denn Schule hat ja nicht nur die Aufgabe, Bildung zu vermitteln. Die Kinder lernen auch, sich in einem sozialen Gefüge zurecht zu finden. Das fällt jetzt weg. Mit welchen Folgen?

Alfred Berger: Viele Schülerinnen wünschen sich, wieder zurück in Schule zu kommen, um dort zu lernen und das soziale Miteinander zu pflegen. Die Schule als Kontext des Aufwachsens und der Sozialisation neben dem Kontext des Lernen ist sehr bedeutsam. Und es gibt auch Schülerinnen und Schüler, die sich einsam fühlen. Die diese Kontakte vermissen und die sie nicht ersetzen könne. Der Austausch ist sehr wichtig für das psychische Wohlbefinden.

tirol.ORF.at: Die verstärkte Digitalisierung der Schulen war ja schon länger geplant, passiert ist lange wenig. Durch CoV ging es dann Knall auf Fall. Ist das jetzt – wenn man so will – wenigstens ein positiver Effekt der Krise oder passierte das so überstürzt, dass wieder welche auf der Strecke bleiben?

Alfred Berger: Diese Krise bewirkt sicher einen Schub in der Digitalisierung der Schulen. Die Neuen Medien werden nach der Coronakrise eine ganz andere Bedeutung in den Schulen haben. Die Schulen werden besser ausgestattet sein und die Lehrpersonen werden mit den Neuen Medien auch besser umgehen können. Es war eine große Herausforderung, die große Mehrheit der Lehrpersonen hat es mit großem Engagement gut gemeistert. Wir sehen schon, dass es auch bei den Schulen einen Schereneffekt gibt und es den einzelnen Schulen unterschiedlich gut gelingt.

Wir müssen uns aber auch bewusst sein, dass der Präsenzunterricht nie durch Neue Medien ersetzt werden kann. Im Präsenzunterricht wird kooperativ, problemlösend und handlungsorientiert gelernt. Die Lehrpersonen können individuell auf Schülerinnen und Schüler eingehen. Das kann durch Neue Medien nicht ersetzt werden, aber die Neuen Medien können den Unterricht befruchten, etwa mit interaktiven Lernprogrammen oder schnell abrufbaren Informationen.

tirol.ORF.at: Teilweise wird schon von der Generation Corona gesprochen, welche möglichen Szenarien sehen Sie für die Zukunft der Kinder und Jugendlichen?

Alfred Berger: Wir wissen aus Längsschnittstudien, dass Bildungsrückstände sich auf längere Zeit im Leben auswirken können. Deshalb ist es wichtig, dass es den Schülerinnen und Schülern möglichst bald ermöglicht wird, diese Rückstände aufzuholen, damit sie keine längerfristigen Nachteile haben. Wir wissen auch, dass bei wirtschaftliche Krisen Jugendlichen der Übergang ins Erwerbsleben erschwert wird und die Jugendarbeitslosigkeit steigt. Dadurch werden sie längerfristig in ihrer Berufslaufbahn zurückgeworfen. Es ist auch vorstellbar, dass sich die ganze Weltwahrnehmung bei Jugendlichen nachhaltig verändert.