Lange hat es gedauert, bis Carmen Brucic ihre mit Erinnerungen prall gefüllten Foto-Kisten öffnen konnte. 2001 hat die junge Absolventin der Wiener Universität für Angewandte Kunst den international Aufsehen erregenden Aktivisten Christoph Schlingensief in einer NDR Talkshow in Hamburg kennen und lieben gelernt. Vier Jahre haben die beiden intensiv zusammengearbeitet und auch zusammen gelebt.
Container-Aktion in Wien „Ausländer raus!“
Die Wogen in Wien waren gerade wieder abgeebbt. Als Reaktion auf die Koalition zwischen der ÖVP und der FPÖ unter Jörg Haider hatte der umtriebige Künstler im Rahmen der Wiener Festwochen neben der Staatsoper einen Container mit dem Titel „Ausländer raus“ installiert.
Die Szenerie wurde von acht Kameras permanent überwacht. Nach Big Brother-Manier konnten Ausländer aus dem Container raus gewählt werden. Schlingensief rezitierte rund um die Uhr rassistische Texte. Aggressive Szenen spielten sich im Zentrum von Wien ab. Carmen Brucic hat das Buch zur Aktion gestaltet, gemeinsam mit Jeanette Müller, mit der sie damals im Künstlerinnenkollektiv „Heavy Girls Lighten“ zusammen gearbeitet hat.
Ihre Diplomarbeit über „Die liebeskranke Gesellschaft“ inszenierte Carmen Brucic als „Lovepangs-Kongress“ in Zusammenarbeit mit Schlingensief und anderen Künstlerinnen und Künstlern in Berlin an der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz. Das Thema kam an, mehr als 1.000 Stadtbewohner nahmen an der künstlerischen Auseinandersetzung mit den eigenen Liebesqualen teil.
Schlingensief am Zenit in Bayreuth
2003 bekam Christoph Schlingensief überraschend die Einladung, die Oper „Parsifal“ in Bayreuth zu inszenieren. Der Künstler, der schon in jungen Jahren mit Super 8 Filmen experimentiert hatte und sich selbst zeitlebens als Filmemacher bezeichnete, fühlte sich durch den Ruf als Opernregisseur auf den Grünen Hügel geadelt.
Doch seine spirituell angelegte, von verstörenden Bildern und Videos begleitete Parsifal-Inszenierung blieb unverstanden und wurde vorzeitig abgesetzt. Schlingensief hatte dagegen gekämpft und sogar sein Regie-Konzept mehrmals überarbeitet. Bayreuth sei ihm sehr wichtig gewesen, erzählt Brucic.
Ein Konzert aus Buhs und Bravos
Von dem für seine exzentrischen Performances verschrienen Künstler hatte sich Festspielleiter Wolfgang Wagner wohl etwas anderes erwartet. Carmen Brucic erinnert sich an die wilde Mischung aus Buh- und Bravo-Rufen nach der Premiere im Jahr 2004. Von den einen als Kultregisseur gefeiert, verteufelten ihn die anderen als oberflächlichen Scharlatan. Er selbst betrachtete das Scheitern auch als Chance, doch den 2008 diagnostizierten Krebs habe er sich in Bayreuth geholt, wird Schlingensief häufig zitiert.
Tiefe Spiritualität statt plakativer Hakenkreuze
In einem Gespräch mit Gregor Gysi im ZDF berichtete Schlingensief von seinen Erfahrungen in Bayreuth: „Die haben gedacht, ich komme und mache BDM-Mädchen und Hakenkreuze auf der Bühne, dann wären sie zufrieden gewesen. Aber genau das war es nicht! Es ging mir um Erlösung und die Frage, was ist dieses Mitleid, das der Parsifal lernen soll. Diese Fragen waren da drinnen.“
Katholische Ikonographie über Bord geworfen
Die Recherche für seine Version von Wagners katholischem „Bühnenweihefestspiel“ rund um den Heiligen Gral hatte in Bayreuth in der Villa Wahnfried begonnen. In der Bibliothek von Richard Wagner stieß Schlingensief auf buddhistische Literatur.
Richard Wagner hatte sich auch für andere Religionen und Erlösungsmotive interessiert. Yogi-Reisen waren schon zu Wagners Zeiten en vogue. Schlingensief brach Richtung Thailand und Nepal auf, um andere Formen der Erlösung zu finden. Die Tiroler Künstlerin Carmen Brucic, der Schlingensief ihre erste Kamera geschenkt hatte, begleitete den Suchenden auf diesem exotischen Trip.
Religiöse Feste in Bhaktapur
In der nepalesischen Stadt Bhaktapur, der kleinsten der drei Königsstädte im Kathmandutal, beteiligten sich die beiden Europäer an religiösen Prozessionen. Der Apothekersohn aus dem norddeutschen Oberhausen war erzkatholisch geprägt aufgewachsen. Seine konservative Erziehung thematisierte er immer wieder in seiner Arbeit.
Vom Apothekersohn zum Theater-Schreck
Der Vater hätte gerne gesehen, wenn das lang ersehnte, einzige Kind die Apotheke übernommen hätte. Mit Respekt und voller Liebe erzählte Christoph Schlingensief immer wieder von seinen biederen Eltern, die seinem künstlerischen Treiben wenig abgewinnen konnten.
Das Ministrieren abschütteln
Auf der katholisch geprägten Bildebene hätten sie sich gut verstanden, erzählt Brucic: „Ich bin in einem kleinen Tiroler Dorf, in Gnadenwald aufgewachsen. Christoph war bis ins Alter von 18 Jahren Ministrant. Das Katholische hat ihn sehr beengt. Daher wollte er den Spirit in anderen Religionen finden. Beim Reinkarnationsfest in Bhaktapur hat sich Christoph unter die Menschen gemischt. Er ist tief in die Zeremonien eingetaucht. Er hat bei Ritualen ekstatisch mitgetanzt und war auf der Suche nach einer anderen Spiritualität. Auf meinen Fotos sieht man, wie seine Augen fiebrig glänzen. Das hat ihn tief berührt.“
Therapeutische Reise ins Innere
Das Durchforsten der 800 Negative war für Brucic eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Viele der, von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannten, Tempelanlagen in Bhaktapur wurden 2015 durch ein schweres Erdbeben zerstört. Die originalen Gebäude sind heute nicht mehr zu sehen.
Im heurigen Corona-Sommer, in dem man nicht reisen durfte, wäre die Verarbeitung der gemeinsamen Zeit mit dem Ausnahmekünstler wie eine Reise ins innere Ich gewesen, beschreibt Brucic ihre Gefühle. Nach vier Jahren haben sich die beiden getrennt. Brucic wollte eigene künstlerische Wege gehen.
Im Schatten eines anderen wächst man schlecht
„Ich habe viel für Christoph gearbeitet und geschrieben“, erinnert sich Brucic, „dann bekam ich eine Einladung von Intendantin Elisabeth Schweeger für eine eigene Inszenierung in Frankfurt. Damals musste ich mich entscheiden, entweder mit Haut und Haar weiter mit Christoph zusammenarbeiten, oder mich selber auf den Weg machen. Im Schatten eines anderen wächst man schlecht.“ Bis heute prägt die performative Intervention ihr Schaffen, ihre Fotoarbeiten wurden international ausgestellt.
Die Ausstellung ist wie ein Film arrangiert
Auf den Fotografien in der Innsbrucker Galerie Thoman, sieht man einen nachdenklich in die Weite blickenden Künstler. Brucic hat die Bilder filmisch arrangiert. Sie schaut Schlingensief über die Schulter und zeigt, was er sieht, etwa das Himalaya-Gebirge im Nebel oder das weite Meer.
„Für mich war die Vorbereitung zu dieser Ausstellung ein riesiges Geschenk“, sagt Brucic, „ich bin froh, dass ich die Kisten aufgemacht habe und alles verarbeiten konnte. Nun kann das Thema in dieser Form weiterwirken.“
„In das Schweigen hineinschreien“
Am 21. August 2010 ist Christoph Schlingensief in Berlin an Lungenkrebs gestorben. Auch sein Sterben hat der manische Theatermacher, der zwischen Beruf und Privatleben keine Grenze zog, inszeniert. Seine Röntgenaufnahmen verarbeitete er als Bühnenbild.
In der aktuellen, von der deutschen Editorin und Schlingensief-Weggefährtin Bettina Böhler gestalteten zweistündigen Dokumentation „In das Schweigen hineinschreien“ wird vor allem der lautstark agierende „heilige Narr“ in den Mittelpunkt gestellt. Mit ihrem Blick auf den Künstler ergänzt Carmen Brucic dieses Bild durch andere Seiten.
Die Festplatte neu aufsetzen
„Mir war es ein Anliegen, Christoph zu übersetzen. Man kennt ihn nur als Verrückten. Wenige sehen den nachdenklichen Menschen, und das braucht es schließlich auch, um sich diesen ganzen Wahnsinn auszudenken.“ Brucic formuliert salopp, „Christoph wollte die Festplatte der Menschen im Kopf löschen und sie dann neu bespielen.“