Mädchen und Frau sitzen am Boden im Kinderzimmer, Frau legt Kind Beinschienen an
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Politik

Falsche Pflegestufe: Schikane oder Einzelfall?

Wie Bittsteller fühlen sich Familien oft, wenn sie für ein behindertes Kind Pflegegeld beantragen. Die Einstufung sei sehr oft zu nieder, Gutachter würden Familien oft gar nicht zuhören, heißt es. Behindertenvertreter halten das nicht für Einzelfälle.

Der Verein Integration Tirol vertritt Eltern, deren behindertes Kind in einer zu niedrigen Pflegestufe eingestuft wurde. An die 100 Fälle sind in den vergangenen Jahren zusammengekommen, „in 99 Prozent der Fälle haben wir den Gerichtsprozess gewonnen und eine höhere Einstufung für die Betroffenen erreicht“, schildert Wolfgang Begus, Obmann des Vereins Integration Tirol. Je niedriger die Pflegestufe, umso weniger Pflegegeld erhalten die Familien. Vertreten werden auch Eltern, deren Antrag auf erhöhte Familienbeihilfe im ersten Anlauf abgelehnt wird.

Kein Einzelfall: Je nach Einstufung 530 Euro weniger

Die Tochter von Ines S. ist sechs Jahre alt und hat mehrere schwere Beeinträchtigungen. Das Mädchen kann nicht gehen und benötigt bei allen Verrichtungen des Alltags, z.B. Zähneputzen oder Duschen, Unterstützung. Wegen einer Harn- und Darmentleerungsstörung legt Ines S. alle zwei Stunden einen Katheter und macht jeden zweiten Tag einen Einlauf. In der Wohnung krabbelt das Kind viel am Boden. Infektionen können bei dem Mädchen, bei dem ein Shunt im Kopf den Überdruck von Gehirnflüssigkeit ausgleicht, leicht lebensbedrohlich verlaufen.

Mädchen sitzt neben Rollstuhl am Boden und spielt mit Doktorkoffer
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Ines S. schildert ihre Erfahrungen bei der Pflegegeldeinstufung als Odyssee. Eine erste Einstufung ergab Stufe 2, dann setzte die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) die Stufe auf 1 herab. Mit Unterstützung der Arbeiterkammer gab es zunächst wieder Stufe 2, anschließend Stufe 3. Frau S. prozessierte erneut, bekam rückwirkend Stufe 4 zuerkannt. Der finanzielle Unterschied zwischen Stufe 1 und Stufe 4 beträgt 530 Euro monatlich.

Viele zeitaufwändige Anforderungen wurden erst im Zuge von Einsprüchen und Gerichtsverfahren anerkannt. Dazu gehört u.a. die Frage, ob das penible Putzen zur Vermeidung potentiell lebensbedrohlicher Infekte als Aufwand zählt, oder das Katheter-Legen sowie das umständliche An- und Ausziehen der Orthesen.

Wolfgang Begus, Obmann Verein Integration Tirol
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Wolfgang Begus, Obmann „Integration Tirol"“

Eintrittskarte für andere Ansprüche

Zu niedrige Einstufungen und nicht gewährte erhöhte Familienbeihilfen bescheren Betroffenen und ihren Angehörigen Folgeprobleme. So hängt z.B. der Anspruch auf Schulassistenz daran. Um sich als pflegende Angehörige eines behinderten Kindes selbst zu versichern, ist die erhöhte Familienbeihilfe Bedingung.

Während Eltern früher z.B. gegen eine zugewiesene Pflegestufe in Berufung gehen konnten, müssen sie heute gleich beim Arbeits- und Sozialgericht klagen. „Das Prozessrisiko schreckt viele ab“, berichtet Begus.

PVA verweist auf gewonnene Verfahren

Die PVA weist die erhobenen Vorwürfe zurück. Es sei nicht richtig, dass die PVA bei der Einstufung von Kindern besonders restriktiv vorgehe. Unterschiedliche Einstufungen würden auch vom Alter abhängen, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme. Gerichtsverfahren hätten 2019 und 2020 öfter der PVA Recht gegeben als den klagenden Familien. Laut einer Umfrage sei nur weniger als ein Prozent der befragten Familien mit den Gutachterinnen und Gutachtern nicht zufrieden, mehr als 80 Prozent seien mit ihnen sehr zufrieden.