Eine Frau besucht ihre Mutter im Pflegeheim, sie sind durch eine Glasscheibe getrennt.
ORF
ORF
Soziales

Experte: CoV-Krise fördert Ausgrenzung

Laut dem Innsbrucker Soziologen Bernhard Weicht fördert der Fokus auf die Risikogruppe in der Coronavirus-Krise die Ausgrenzung Älterer. Das könnte in weiterer Folge den sozialen Zusammenhalt gefährden, warnt der Forscher.

Der Aufruf von Politik und Medien an die Bevölkerung, während der Coronavirus-Krise vor allem die „Risikogruppe“ zu schützen, hat laut dem Soziologen Bernhard Weicht von der Universität Innsbruck die Abgrenzung zwischen alten, pflegebedürftigen oder kranken Menschen und dem Ideal der Jungen, Aktiven, Unabhängigen weiter verschärft. Das könnte in weiterer Folge den sozialen Zusammenhalt gefährden, warnt der Forscher.

Hände eines älteren Mannes
ORF
Aufrufe zum Schutz der Risikogruppe haben laut Weicht die Abgrenzung gefördert

Die Darstellung, dass die oft nicht näher definierte Risikogruppe von den Jungen und durch deren Verhalten geschützt werden muss, „reproduziert ein die Gesellschaft prägendes Bild der Abgrenzung“, schreibt Weicht in der Dossierreihe „subject“ der Uni Innsbruck.

Forscher sieht Bedrohung für Zusammenhalt

Der Forscher, der sich seit 2005 mit dem Diskurs zu Abhängigkeit im Alter beschäftigt, befürchtet konkrete Auswirkungen dieser verstärkten „Gegenstellung“ bei der Planung der nächsten politischen und gesellschaftlichen Schritte: Wenn die problematische Darstellung des „Wir-für-sie-Sorgens“ weiter verstärkt werde und Gesellschaft tatsächlich ausschließlich für die „Gesunden, Jungen und Fitten“ existiere, wäre das für Weicht „eine reale Bedrohung der gesellschaftlichen Kohäsion“.

Widersprüche im Bereich der Pflege

Die Coronavirus-Krise hat laut Weicht auch die Widersprüche bei der Pflege- und Betreuungsarbeit verstärkt aufgezeigt. Diese werde in Österreich nicht als gesamtgesellschaftliches Problem verstanden. Während früher vor allem weibliche Familienmitglieder die informelle Pflege übernommen haben, wird seit 2007 auch über die 24-Stunden-Pflege durch Betreuungskräfte aus den osteuropäischen Nachbarländern „die Illusion der Familienpflege“ weitergelebt und „über marktförmig organisierte Ersatzpersonen verlängert“.

Voraussetzung für dieses in Österreich beliebte Modell seien allerdings transnationale Mobilität und globale Ungleichheit, wie sich aktuell besonders deutlich zeigt. Das von Rumänien im Rahmen der Pandemie verhängte Ausreiseverbot für Pflegekräfte habe etwa das ständige Problem des „Care Drains“ und Pflegekräftemangels in den Herkunftsländern aufgezeigt. Da die Pflegerinnen und Pfleger als Selbstständige gelten, erhalten sie auch in der teilweise vorgeschriebenen 14-tägigen Quarantänezeit kein Geld.

Im Arbeitsleben soll auch Betreuung zu Hause Platz haben

Weicht fordert einen „radikalen Kurs- und Diskurswechsel“ im Betreuungs- und Pflegebereich: „Wir müssen beginnen, viel mehr darüber zu sprechen, dass Altern und Abhängigkeiten Teil unseres Lebens sind, sonst wird es keine positiven Lösungen geben.“ Er fordert, dass im Arbeitsleben auch Betreuungsaufgaben zu Hause einen Platz haben. Derzeit werde etwa Pflegekarenz eher tabuisiert und kaum in Anspruch genommen. Auch neue Wohnformen wie Wohngemeinschaften oder generationenübergreifendes Wohnen seien ein wichtiger Schritt. Voraussetzung für all das wäre allerdings ein anderes Begreifen von Altern. „Das ist ebenso eine politische wie auch gesellschaftliche Thematik.“