Als Karen Gleissner Mitte März nur kurz in der Stadt war, um notwendige Besorgungen zu machen, kamen ihr die ausgestorbenen Innsbrucker Plätze und Straßen surreal vor. Die strenge Ausgangssperre war soeben erst erlassen worden. Die Stimmung auf der normalerweise überfüllten Maria Theresien Straße empfand sie als gespenstisch. Die Grafikerin, die ein Faible für ausrangierte Buchstaben hat, entschied sich spontan ein Zeichen zu setzen.
Luftholen im Shut down
Aus alten Buchstaben formulierte sie eine neue Botschaft und platzierte sie an verschiedenen neuralgischen Punkten in der Stadt, etwa am normalerweise von Studenten bevölkerten Innufer oder auf der Grassmayr-Kreuzung, einem Verkehrs-Hotspot. „Gerhard Berger hat die Fotos sehr schnell gemacht. Wir hatten selbst ein mulmiges Gefühl in dieser Ausnahmesituation und wollten eigentlich so schnell wie möglich wieder nach Hause. Aber wir wollten das auch dokumentieren“, beschreibt Gleissner das Making of.
Ein Anker in einer merkwürdigen Zeit
Eine ältere Dame, die die beiden Initiatoren beim Fotografieren beobachtete, meinte, genau das Durchatmen würde man jetzt brauchen, erzählt Gleissner. Die Reaktionen auf ihre Aktion seien positiv. „Wir leben in einer Zeit der Veränderung. Die einen haben jetzt Ruhe zum Nachdenken, andere haben berechtigte Zukunftsängste. Ich würde mir wünschen, dass die Veränderungen nicht nur negativ gesehen werden“, hofft Gleissner.
Atmen als Imperativ
„Wir sollten die Luft nicht anhalten, sondern weiter atmen. Mir gefällt diese Intervention“, meint eine Passantin. „Gott sei Dank kann ich noch tief atmen“, formuliert ein älterer Herr, „andere können das derzeit nicht.“
In Anlehnung an Erpresserbriefen fing es an
Schon als Kind hat sich Gleissner für Grafik interessiert und als Hobby einzelne Buchstaben aus Zeitungen ausgeschnitten, um daraus Texte zu basteln. „Das hat damals an Erpresserbriefe erinnert“, schmunzelt sie. Wenn in der Stadt eine Fassade saniert wird und alte Schriftzüge von Kaffeehäusern, Geschäften oder Kinos auf dem Müll zu landen drohen, dann versucht Gleissner, diese Lettern zu retten. Im Tiroler Buchstabenarchiv hortet sie Raritäten etwa eine aus Zement gegossene gotische Frakturschrift aus den 30er Jahren oder poppige 70er Jahre Buchstaben.
Homepage zum Dampf ablassen
Zu Beginn sei es nur eine spontane Idee gewesen, meint Gleissner. Inzwischen habe sich die Homepage www.atme.tirol zu einem beliebten Ventil entwickelt, auf der immer mehr Menschen ihren Gefühlen, Ängsten und Sorgen Luft machen. Einer der Autoren jongliert zum Beispiel mit den vier Buchstaben und kommt zum Wort „Team“ – auch erstrebenswert in Zeiten wie diesen.