Bewohner einer Lebenshilfe Wohngemeinschaft beim Kochen
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Soziales

Selbstbestimmt zu Kühlschrank und Kino

In Hall in Tirol bietet die Lebenshilfe Tirol eine neue Wohnform für Menschen mit Unterstützungsbedarf. Acht Männer und Frauen leben je zu zweit in Wohngemeinschaften in einer großen Siedlung und bestreiten ihren Alltag selbst. Es gibt dafür stundenweise Unterstützung.

Einkaufen, kochen, sauber machen – alle diese Arbeiten werden von den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst durchgeführt. Je nach Unterstützungsbedarf erhalten sie stundenweise Assistenz der Lebenshilfe. Wer einen höheren Bedarf hat, bekommt mehr Betreuungsstunden, wer einen niedrigeren Bedarf hat, weniger. Ziel des Wohnens in Wohngemeinschaften ist ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben. Eine separate Wohnung in der Anlage dient als Büro und Quartier für die Spät-, Nacht- und Wochenenddienste der Assistentinnen und Assistenten.

Paradigmenwechsel im Betreuungskonzept

2016 wurde ein Lebenshilfe-Wohnhaus aufgelöst, seither lebt ein Teil der Bewohner in den Wohngemeinschaften. Die zwei Frauen und sechs Männer zwischen 26 und 41 Jahren gehen während des Tages einer Arbeit nach, ab dem späten Nachmittag sind sie zuhause oder, wie andere Menschen auch, im Kino, im Schwimmbad, beim Einkaufen.

Betreuerin mit zwei Klienten in der Küche einer Wohngemeinschaft
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Betreuung gibt es stundenweise und abgestimmt auf den individuellen Bedarf.

Klienten mit Pflegestufe eins machen das meiste allein, Klienten mit Pflegestufe sechs werden über viele Stunden von Assistenten der Lebenshilfe im Haushalt unterstützt und bei Freizeitaktivitäten begleitet. In der Nacht sind die Klienten allein, ein Notrufsystem steht bereit.

Notfalldrücker mit Glockensymbol in Lebenshilfe Wohngemeinschaft
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Auch in der Nacht können die Bewohner Hilfe holen

Verringerte Betreuung hat Klienten selbständig gemacht

Angela Kerschbaumer ist Leiterin des Wohnverbundes. Eine positive Überraschung für sie war das Entwicklungspotential, das das selbständige Wohnen bei den Männern und Frauen auslöst. Sie erinnert sich an einen Bewohner, der früher mit dem Lebenshilfebus zwischen Wohnheim und Arbeitsplatz hin- und hergefahren wurde. Unlängst traf sie den Mann im Supermarkt, als er alleine Brot einkaufte.

Ein anderes Beispiel: Ein Klient kam nach der Arbeit nicht nach Hause, telefonisch war er nicht erreichbar. Später am Abend stellte sich heraus, dass er nach der Arbeit ins Kino gegangen war. Die zahlreichen Anrufversuche der Lebenshilfe-Betreuer empfand er im Kino als störend, berichtet Angela Kerschbaumer, „und warum soll jemand nach der Arbeit ja wirklich nicht ins Kino gehen? Wir machen das ja auch!“

Hand in Hand mit der gestiegenen Selbständigkeit der Klientinnen und Klienten geht ihre Selbstbestimmtheit. „Manchmal hat einer gerade keine Lust darauf, seinen Assistenten in die Wohnung zu lassen. Auch das mussten wir akzeptieren lernen.“

Begleitforschung

Studie: Wohnform fordert auch Betreuerinnen

Die Lebenshilfe hat das Projekt wissenschaftlich evaluieren lassen. Den meisten Menschen mit Unterstützungsbedarf gefällt ihre neue Wohnung. Positiv wahrgenommen wurde unter anderem der Platz für Individualität, die Küche sowie der Zugang zum Kühlschrank und dass Besuch empfangen werden kann. Geschätzt wird auch die Privatsphäre. Allerdings erfordere diese innovative Wohnform von Bewohnern und Mitarbeitern neue Herangehensweisen und sei damit (noch) nicht für alle geeignet, so Eva Fleischer vom MCI Innsbruck und Lorenz Kerer von der Lebenshilfe in ihrem Bericht.