Pogrom App
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Kultur

App zu den Schauplätzen des Terrors

Mit einer App lassen sich die Ereignisse in der Pogromnacht 1938 in Innsbruck nachvollziehen und die Schauplätze des Terrors besuchen. Zeithistoriker rekonstruierten die brutalen Überfälle auf Jüdinnen und Juden minutiös. Es entstand ein virtueller Rundgang mit Bild, Text und Ton.

Unternehmer Hugo Schindler
Meriel Schindler, London
Der Innsbrucker Unternehmer Hugo Schindler 1916, er hat als Offizier im Ersten Weltkrieg gedient

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 dringen Schlägertrupps verschiedener NS-Organisationen in Zivilkleidung in mindestens 36 jüdische Wohnungen in Innsbruck ein. Das Inventar wird zertrümmert, Geschäfte werden zerstört, Menschen brutal misshandelt, drei Juden werden ermordet und die Synagoge wird zerstört.

„Wenn er kaputt geht, ist’s auch gleich“

Die Polizei ist in dieser Nacht auf Geheiß von Gauleiter Franz Hofer „ausgeschaltet“. Sturmführer Alois Hochrainer wird in den Prozessakten von 1946 zitiert: „Ihr geht zu Schindler in die Andreas Hofer Straße und schlagt’s den Juden so her, dass er ins Spital muss, und wenn er kaputt geht, ist’s auch gleich, ihr seid’s gedeckt, die Polizei ist von der Straße weg.“

In wenigen Orten im Deutschen Reich sind die Überfälle auf jüdische Bürgerinnen und Bürger in der Pogromnacht so detailliert vorbereitet, straff organisiert und folgenschwer wie in Innsbruck. Listen mit den Namen und Adressen der wenigen nach dem Anschluss im März 1938 noch verbliebenen jüdischen Bürgerinnen und Bürger liegen vor. Gauleiter Hofer überlässt nichts dem Zufall.

Liste Israelitische Kultusgemeinde
Archiv IKG Innsbruck
Ausschnitt aus der Liste der Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde Innsbruck aus dem Jahr 1931

Hörstück: „Der Überfall auf Hugo Schindler“ gelesen von Günter Lieder

Cafe Schindler Schmierereien
Archiv Niko Hofinger
Das Tanzcafe Schindler auf der Maria-Theresien-Straße 29, ehemals ein beliebter Treffpunkt im Herzen der Stadt, wird nach dem Anschluss im März 1938 beschmiert

Innsbruck soll „judenfrei“ werden

Viele junge Jüdinnen und Juden sind bereits nach England oder Palästina geflüchtet, vor allem ältere und Kinder sind noch in Innsbruck. In der Pogromnacht stehen in einigen Haushalten schon verpackte Kisten für die Flucht bereit. Ziel der Misshandlungen durch die NS-Schlägertrupps ist es, zu vermitteln, dass „Juden unerwünscht sind“. Gauleiter Hofer hat den Ehrgeiz, Tirol bis zum Jahresende „judenfrei“ zu melden.

Margarete und Richard Berger
Archiv IKG Innsbruck
Das Ehepaar Margarete und Richard Berger in den Dreißigerjahren. Richard Berger ist ab Juni 1938 Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg

Traurige Bilanz

Gemessen an der geringen Zahl der jüdischen Einwohner werden in Innsbruck besonders viele Juden ermordet. Ing. Richard Berger, Ing. Richard Graubart und Dr. Wilhelm Bauer werden gezielt und mit möglichst wenig Aufsehen getötet. Insgesamt werden mindestens 28 Juden und zehn Jüdinnen misshandelt und zum Teil schwer verletzt. Zwei deutsche Jüdinnen nehmen sich am 10. November 1938 das Leben.

Nicht alle Überfälle sind dokumentiert. Der Sicherheitsdienst der SS (SD) verkündet am 12. November 1938: „Falls Juden bei dieser Aktion keinen Schaden erlitten haben, dürfte dies darauf zurückzuführen sein, dass sie übersehen wurden.“

Pogrom

Der Begriff stammt aus dem Russischen und bedeutet „Verwüstung“ unabhängig von einem Krieg. Heute steht „Pogrom“ für die gewaltsame Ausschreitung gegen ethnische, politische oder religiöse Minderheiten.

Willkommener Anlassfall

Das NS-Regime nimmt den Mord an dem deutschen Botschaftsmitarbeiter Ernst vom Rath durch den 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan in Paris zum Anlass, am 9. November 1938 im ganzen Deutschen Reich schon lange geplante Pogrome zu organisieren. Propagandaminister Joseph Goebbels hält in München eine flammende antisemitische Rede.

Der Tiroler Gauleiter Hofer gibt den NS-Organisationen SS, SA und der Gestapo den Auftrag, dass sich auch in Tirol „das Volk erheben solle“. Auf die Frage, ob man Juden auch umbringen dürfe, erhalten SA-Männer in Innsbruck die Antwort: „Jeder soll machen, was er für nötig hält.“

Wahre Geschichten, die unter die Haut gehen

Die Innsbrucker Zeithistoriker Horst Schreiber, Michael Guggenberger und Niko Hofinger beschäftigen sich schon jahrelang intensiv mit der Geschichte der jüdischen Bevölkerung. Für dieses Projekt hat Guggenberger zahlreiche Prozessakten des Volksgerichtes durchforstet, Zeugenaussagen und Fotos analysiert. Die ersten Vernehmungsprotokolle durch die Kriminalpolizei stammen bereits vom Tag danach, dem 10. November 1938.

Niko Hofinger und Michael Guggenberger
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Die Historiker Niko Hofinger und Michael Guggenberger mit der umfangreichen Fotosammlung der Familie Schindler, die Markus Wilhelm gefunden hat

Die Gestapo unterbindet 1938 die Ermittlungen und verhindert Obduktionen in der Gerichtsmedizin. Der Leichnam von Ing. Berger wird schnellstmöglich in München eingeäschert. Erst nach dem Krieg tauchen die Unterlagen wieder auf.

Michael Guggenberger und Niko Hofinger
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Mit der App kann man die Geschichten an den Orten anhören, wo sie 1938 passiert sind

Die Historiker haben die Originalschauplätze besucht und mit detektivischer Akribie die Ereignisse der November-Nacht rekonstruiert. Sein umfangreiches Wissen hat Guggenberger in wissenschaftlich fundierte, aber dennoch gut lesbare Geschichten einfließen lassen. Durch die Formulierung im historischen Präsens wirken die Texte authentisch und unmittelbar.

Zwei Schindler Buben mit Rodel
Archiv Markus Wilhelm
Weihnachten 1933 spielen die „Schindler Buben“ im Schnee wie andere Tiroler Kinder auch, ab November 1938 ist alles anders

„Die Zeugenaussagen sind so genau, dass jedes Detail stimmt“, sagt Guggenberger, „vom Dietrich, mit dem die Tür geöffnet wird, bis zum Teddybär, den ein Kind umschlungen hält.“ Günter Lieder, der derzeitige Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg, liest die fünfstündige deutsche Fassung.

Richard Berger
Archiv IKG Innsbruck
Der 53 jährige Ing. Richard Berger wird in der Pogromnacht von SS-Männern entführt und am Inn mit einem Stein brutal erschlagen

Hörstück: „Nehmt einen Stein!“ Der Auftragsmord an Ing. Richard Berger

App für ein breites Publikum

Das gesamte Material aus Hörstücken, Texten, Fotos und Dokumenten stellt Hofinger in einer App zur Verfügung (www.pogrom-erinnern.at). Auf einem geodatenbasierten Stadtplan von Innsbruck ist die Konzentration der Verbrechen in den Stadtteilen Wilten und Saggen zu sehen und vereinzelt auch in Pradl. Klickt man auf die Markierungen, tauchen die klingenden Namen der betroffenen jüdischen Familien auf. „Niemand muss Geschichte studieren, um diese Geschichten zu verstehen“, erklärt Hofinger, „man geht zu einem Haus und erfährt, was in dieser November-Nacht darin passiert ist. Das ist neu. So ist das noch nie erzählt worden.“

Stadtplan von Innsbruck mit den Pogromorten
www.pogrom-erinnern.at
Auf dem Stadtplan von Innsbruck sind die Schauplätze des Terrors markiert und die Schicksale der jüdischen Familien mobil abrufbar

In der Pogromnacht wird die Wohnung der Familie Schindler im ersten Stock in der Andreas-Hofer-Straße 13 von Mitgliedern des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK) total verwüstet. Der Unternehmer Hugo Schindler wird verprügelt, er hat eine klaffende Risswunde am Kopf und mehrere Knochenbrüche. „Die Kopfschwarte ist bis zum Knochen durchtrennt.“

Firma Schindler Andreas Hofer Strasse 13
Meriel Schindler London
Die Firmenzentrale der Ersten Tiroler Fruchtsaftpresserei und Likörfabrik Schindler in der Andreas-Hofer-Straße 13

Die englischen Hörstücke liest Meriel Schindler, die heute als Juristin in London arbeitende Enkelin des in der Pogromnacht misshandelten jüdischen Unternehmers Schindler. Berührend ist, wenn Meriel Schindler im Text von ihrem „grandfather“ spricht.

Hörstück: „The attack on Hugo Schindler“ gelesen von Meriel Schindler

Meriel Schindler
Niko Hofinger
Meriel Schindler, die Enkelin des in der Pogromnacht schwer verletzten Innsbrucker Unternehmers Hugo Schindler mit ihrer Familie

Bleibende Erinnerung

Die bekannten Namen der Familien Adler, Berger, Bauer, Brüll, Graubart und Schindler haben viele Innsbruckerinnen und Innsbrucker wohl schon einmal gehört. Einige wissen, dass das beliebte Tanzcafe Schindler in der Maria-Theresien-Straße 29 ursprünglich von der Familie des Unternehmers Hugo Schindler gegründet worden ist. Die Familie konnte 1938 nach England emigrieren und kehrte nach dem Krieg nach Innsbruck zurück.

xy
Meriel Schindler, London
Das private Fotoalbum von Edith Schindler, das sie kurz vor ihrer Flucht nach England angelegt hat

Täter nur teilweise verurteilt

Ungefähr 150 großteils junge Tiroler Männer sind an den Ausschreitungen beteiligt. Am Tag danach kursieren absurde Gerüchte, etwa dass Kommunisten die Überfälle angezettelt hätten und dass nur durch das Einschreiten der SS Schlimmeres verhindert werden konnte. Nach dem Krieg kommt es zu Prozessen, ein Drittel der Täter wird zu Haftstrafen von durchschnittlich vier Jahren verurteilt. Viele Namen sind bis heute nicht bekannt. Dr. Gerhard Lausegger, dem Mörder von Ing. Richard Berger, gelingt die Flucht. Er kann sich nach Argentinien absetzen und wird nie zur Verantwortung gezogen.

Dr. Gerhard Lausegger und Leutnant Frederic Benson
Archiv IKG Innsbruck
Eine legendäre Aufnahme: Leutnant Frederic Richard Benson (ehemals Fritz Berger) verhört Dr. Gerhard Lausegger, den Mörder seines Vaters Richard Berger. Bei der Überstellung von Wolfsberg nach Innsbruck gelingt Lausegger die Flucht

Fakten ohne erhobenen Zeigefinger

Vor Kurzem wurde die neue App in der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg in Innsbruck präsentiert. Dabei betonte der Historiker Hofinger, dass es heute wichtig sei, sich den Fakten zu stellen. Diese Form als App sei im Unterschied zu dicken Fachbüchern für jeden leicht zugänglich und ganz ohne erhobenen Zeigefinger formuliert. Die in Zusammenarbeit mit dem Historiker Schreiber entwickelte App ist für den Geschichtsunterricht geeignet. Die englische Fassung dient vor allem den Nachkommen der in alle Welt zerstreuten jüdischen Familien aus Innsbruck.