
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 dringen Schlägertrupps verschiedener NS-Organisationen in Zivilkleidung in mindestens 36 jüdische Wohnungen in Innsbruck ein. Das Inventar wird zertrümmert, Geschäfte werden zerstört, Menschen brutal misshandelt, drei Juden werden ermordet und die Synagoge wird zerstört.
„Wenn er kaputt geht, ist’s auch gleich“
Die Polizei ist in dieser Nacht auf Geheiß von Gauleiter Franz Hofer „ausgeschaltet“. Sturmführer Alois Hochrainer wird in den Prozessakten von 1946 zitiert: „Ihr geht zu Schindler in die Andreas Hofer Straße und schlagt’s den Juden so her, dass er ins Spital muss, und wenn er kaputt geht, ist’s auch gleich, ihr seid’s gedeckt, die Polizei ist von der Straße weg.“
In wenigen Orten im Deutschen Reich sind die Überfälle auf jüdische Bürgerinnen und Bürger in der Pogromnacht so detailliert vorbereitet, straff organisiert und folgenschwer wie in Innsbruck. Listen mit den Namen und Adressen der wenigen nach dem Anschluss im März 1938 noch verbliebenen jüdischen Bürgerinnen und Bürger liegen vor. Gauleiter Hofer überlässt nichts dem Zufall.

Hörstück: „Der Überfall auf Hugo Schindler“ gelesen von Günter Lieder

Innsbruck soll „judenfrei“ werden
Viele junge Jüdinnen und Juden sind bereits nach England oder Palästina geflüchtet, vor allem ältere und Kinder sind noch in Innsbruck. In der Pogromnacht stehen in einigen Haushalten schon verpackte Kisten für die Flucht bereit. Ziel der Misshandlungen durch die NS-Schlägertrupps ist es, zu vermitteln, dass „Juden unerwünscht sind“. Gauleiter Hofer hat den Ehrgeiz, Tirol bis zum Jahresende „judenfrei“ zu melden.

Traurige Bilanz
Gemessen an der geringen Zahl der jüdischen Einwohner werden in Innsbruck besonders viele Juden ermordet. Ing. Richard Berger, Ing. Richard Graubart und Dr. Wilhelm Bauer werden gezielt und mit möglichst wenig Aufsehen getötet. Insgesamt werden mindestens 28 Juden und zehn Jüdinnen misshandelt und zum Teil schwer verletzt. Zwei deutsche Jüdinnen nehmen sich am 10. November 1938 das Leben.
Nicht alle Überfälle sind dokumentiert. Der Sicherheitsdienst der SS (SD) verkündet am 12. November 1938: „Falls Juden bei dieser Aktion keinen Schaden erlitten haben, dürfte dies darauf zurückzuführen sein, dass sie übersehen wurden.“
Pogrom
Der Begriff stammt aus dem Russischen und bedeutet „Verwüstung“ unabhängig von einem Krieg. Heute steht „Pogrom“ für die gewaltsame Ausschreitung gegen ethnische, politische oder religiöse Minderheiten.
Willkommener Anlassfall
Das NS-Regime nimmt den Mord an dem deutschen Botschaftsmitarbeiter Ernst vom Rath durch den 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan in Paris zum Anlass, am 9. November 1938 im ganzen Deutschen Reich schon lange geplante Pogrome zu organisieren. Propagandaminister Joseph Goebbels hält in München eine flammende antisemitische Rede.
Der Tiroler Gauleiter Hofer gibt den NS-Organisationen SS, SA und der Gestapo den Auftrag, dass sich auch in Tirol „das Volk erheben solle“. Auf die Frage, ob man Juden auch umbringen dürfe, erhalten SA-Männer in Innsbruck die Antwort: „Jeder soll machen, was er für nötig hält.“
Wahre Geschichten, die unter die Haut gehen
Die Innsbrucker Zeithistoriker Horst Schreiber, Michael Guggenberger und Niko Hofinger beschäftigen sich schon jahrelang intensiv mit der Geschichte der jüdischen Bevölkerung. Für dieses Projekt hat Guggenberger zahlreiche Prozessakten des Volksgerichtes durchforstet, Zeugenaussagen und Fotos analysiert. Die ersten Vernehmungsprotokolle durch die Kriminalpolizei stammen bereits vom Tag danach, dem 10. November 1938.

Die Gestapo unterbindet 1938 die Ermittlungen und verhindert Obduktionen in der Gerichtsmedizin. Der Leichnam von Ing. Berger wird schnellstmöglich in München eingeäschert. Erst nach dem Krieg tauchen die Unterlagen wieder auf.

Die Historiker haben die Originalschauplätze besucht und mit detektivischer Akribie die Ereignisse der November-Nacht rekonstruiert. Sein umfangreiches Wissen hat Guggenberger in wissenschaftlich fundierte, aber dennoch gut lesbare Geschichten einfließen lassen. Durch die Formulierung im historischen Präsens wirken die Texte authentisch und unmittelbar.

„Die Zeugenaussagen sind so genau, dass jedes Detail stimmt“, sagt Guggenberger, „vom Dietrich, mit dem die Tür geöffnet wird, bis zum Teddybär, den ein Kind umschlungen hält.“ Günter Lieder, der derzeitige Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg, liest die fünfstündige deutsche Fassung.

Hörstück: „Nehmt einen Stein!“ Der Auftragsmord an Ing. Richard Berger
App für ein breites Publikum
Das gesamte Material aus Hörstücken, Texten, Fotos und Dokumenten stellt Hofinger in einer App zur Verfügung (www.pogrom-erinnern.at). Auf einem geodatenbasierten Stadtplan von Innsbruck ist die Konzentration der Verbrechen in den Stadtteilen Wilten und Saggen zu sehen und vereinzelt auch in Pradl. Klickt man auf die Markierungen, tauchen die klingenden Namen der betroffenen jüdischen Familien auf. „Niemand muss Geschichte studieren, um diese Geschichten zu verstehen“, erklärt Hofinger, „man geht zu einem Haus und erfährt, was in dieser November-Nacht darin passiert ist. Das ist neu. So ist das noch nie erzählt worden.“

In der Pogromnacht wird die Wohnung der Familie Schindler im ersten Stock in der Andreas-Hofer-Straße 13 von Mitgliedern des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK) total verwüstet. Der Unternehmer Hugo Schindler wird verprügelt, er hat eine klaffende Risswunde am Kopf und mehrere Knochenbrüche. „Die Kopfschwarte ist bis zum Knochen durchtrennt.“

Die englischen Hörstücke liest Meriel Schindler, die heute als Juristin in London arbeitende Enkelin des in der Pogromnacht misshandelten jüdischen Unternehmers Schindler. Berührend ist, wenn Meriel Schindler im Text von ihrem „grandfather“ spricht.
Hörstück: „The attack on Hugo Schindler“ gelesen von Meriel Schindler

Bleibende Erinnerung
Die bekannten Namen der Familien Adler, Berger, Bauer, Brüll, Graubart und Schindler haben viele Innsbruckerinnen und Innsbrucker wohl schon einmal gehört. Einige wissen, dass das beliebte Tanzcafe Schindler in der Maria-Theresien-Straße 29 ursprünglich von der Familie des Unternehmers Hugo Schindler gegründet worden ist. Die Familie konnte 1938 nach England emigrieren und kehrte nach dem Krieg nach Innsbruck zurück.

Täter nur teilweise verurteilt
Ungefähr 150 großteils junge Tiroler Männer sind an den Ausschreitungen beteiligt. Am Tag danach kursieren absurde Gerüchte, etwa dass Kommunisten die Überfälle angezettelt hätten und dass nur durch das Einschreiten der SS Schlimmeres verhindert werden konnte. Nach dem Krieg kommt es zu Prozessen, ein Drittel der Täter wird zu Haftstrafen von durchschnittlich vier Jahren verurteilt. Viele Namen sind bis heute nicht bekannt. Dr. Gerhard Lausegger, dem Mörder von Ing. Richard Berger, gelingt die Flucht. Er kann sich nach Argentinien absetzen und wird nie zur Verantwortung gezogen.

Fakten ohne erhobenen Zeigefinger
Vor Kurzem wurde die neue App in der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg in Innsbruck präsentiert. Dabei betonte der Historiker Hofinger, dass es heute wichtig sei, sich den Fakten zu stellen. Diese Form als App sei im Unterschied zu dicken Fachbüchern für jeden leicht zugänglich und ganz ohne erhobenen Zeigefinger formuliert. Die in Zusammenarbeit mit dem Historiker Schreiber entwickelte App ist für den Geschichtsunterricht geeignet. Die englische Fassung dient vor allem den Nachkommen der in alle Welt zerstreuten jüdischen Familien aus Innsbruck.