Experiment mit der Zeit

Die israelische Fotografin Orly Zailer lässt Menschen in die Rollen ihrer Vorfahren schlüpfen. In Familienalben sucht und findet sie verblüffende Ähnlichkeiten zwischen Generationen. Derzeit ist die 35-jährige Künstlerin in Tirol unterwegs.

Orly Zailer experimentiert mit der verronnenen Zeit. Ihre Protagonisten schickt sie auf eine Reise in die Vergangenheit. Schon als Kind war die Künstlerin von Familienalben fasziniert. Sie liebt es, Ähnlichkeiten zu analysieren und Geschichten über ihre Vorfahren zu hören.

Orly Zailer

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Orly Zailer arbeitet mit alten Familienfotos

Fake Erinnerung

Manchmal würden wir uns an bestimmte Ereignisse erinnern, nur weil sie im Fotoalbum abgebildet sind. „Wir sind überzeugt, dabei gewesen zu sein, doch in Wirklichkeit waren wir gar nicht dabei. Das ist eine interessante Erfahrung“, beschreibt die Künstlerin ein Phänomen, das vielleicht einige nachvollziehen können.

Die Eltern von Orly Zailer, aufgenommen im Jahr 1972, und die Künstlerin mit ihrem Freund, aufgenommen 40 Jahre später.

Wer ist wer?

Der Auslöser für das Kunstprojekt entstand aus einer Laune. Während ihres Studiums der Fotografie an der University of London gab es ein Projekt zum Thema Familienalbum. Ein Foto hatte Zailer immer dabei: das zerknitterte Porträt ihrer Eltern Mariana und Samy aus dem Jahr 1972. Es zeigt die Mutter in weißer Bluse und der Vater im gestreiften Hemd. Beide lachen unbeschwert.

Orly Zailer stellte sich an den Platz ihrer Mutter neben ihren Freund Nadav und drückte auf den Selbstauslöser. Das Ergebnis war verblüffend. Zu der Zeit als das Foto ihrer Eltern 1972 entstanden ist, war Orly noch lange nicht auf der Welt.

Orly Zailer

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Die Fotografin Orly Zailer

Es sei schwer, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, sagt Zailer. „Ich weiß nicht, wie meine Mutter im Alter von Ende 20 drauf war, weil ich sie damals noch nicht gekannt habe. Warum haben die beiden gelacht? Waren sie damals glücklich? Wir wissen es nicht. Mit meinem Freund habe ich versucht, genau diesem Moment nachspüren.“

102 Jahre wie weggewischt

Die zurückgezogen im Kibbutz Maoz Haim in Israel lebende Künstlerin baute die Idee aus. Sie blätterte in den Familienalben von Freunden und Bekannten und bat sie, in die Rollen ihrer Vorfahren zu schlüpfen. Damit versucht sie, das Unaufhaltsame festzuhalten: die Zeit.

Zwei Frauen auf einem Stuhl sitzend – auf der einen Seite ist die Urgroßmutter Marie abgebildet, auf der anderen Seite sitzt die Urenkelin Claire. 102 Jahre liegen zwischen diesen beiden Bildern. Beim Anblick des alten Fotos habe Claire gerufen: „Wow! Das bin ja ich, das bin ja wirklich ich!“ erzählt die Künstlerin.

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Urgroßmutter Marie – Urenkelin Claire

Postkarte als Lebenszeichen nach Holocaust

Auf dem Hochzeitsfoto strahlt das frisch verheiratete Brautpaar nicht. Zosha und Rishek haben 1947 gerade den Holocaust überlebt. Wie damals üblich, gingen sie in ein Fotostudio um eine Postkarte anfertigen zu lassen. Die schickten sie nach Israel und in die USA mit der Frage: wer von unserer Familie und unseren Freunden hat noch überlebt? 65 Jahre später stellte ihre Enkelin Naama das Bild mit ihrem Freund nach, ein bewegender Moment für alle Beteiligten.

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Das Hochzeitsfoto von Zosha und Rishek aus dem Jahr 1947

Ausstellung in Innsbruck

Die Ausstellung in der Galerie Fokus in der Bank für Tirol und Vorarlberg wird am 2. April 2019 eröffnet.

Zeitreisen in Tirol und Vorarlberg

Die Arbeiten der zurückhaltenden Fotografin erregen international Aufsehen. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel und ARTE berichteten. Für das neue Kunstprojekt der Bank für Tirol und Vorarlberg (BTV), mit dem Titel „Die Zeit die zwischen zwei Bildern vergeht“ wurde Orly Zailer nach Tirol eingeladen. Mit großem Aufwand wurden Requisiten gekauft, Szenerien nachgestellt und alte Familienfotos akribisch neu inszeniert.

Es war nicht ganz einfach, Freiwillige zu finden, denn nicht jeder will an seine Vorfahren erinnert werden. „Beim Blättern durch Familienalben habe ich auch Soldaten in Wehrmachtsuniform gesehen." Das wäre für sie erschreckend gewesen, sagt die Künstlerin, die aus einer Familie mit Holocaust Hintergrund stammt. "Diese Bilder sind da, es kommt darauf an, wie die Nachkommen heute damit umgehen.“

Orly Zailer

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Katharina Randolf schlüpft vor der Kamera in die Rolle ihrer Mutter

Die aus Niederösterreich stammende Katharina Randolf ließ sich auf das Experiment ein. Sie hat persönliche Gründe, denn ihre Mutter Gertrud ist gestorben, als sie sieben Jahre alt war. Auf diese Art könne sie ihrer Mutter noch einmal sehr nahe kommen und in ihre Rolle schlüpfen. Das sei eine einmalige Chance, sagt Randolf.

Orly Zailer

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Orly Zailer geht mit Präzision ans Werk. Katharina Randolf trägt das blaue Dirndl der Mutter, den gleichen Halsschmuck, die gleiche Frisur. Dann geschieht der magische Moment der Verwandlung. „Was mich wirklich geflasht hat war, dass ich plötzlich so ausgesehen habe, wie meine Mutter. Es war, als würde ich meiner Mutter gegenüber sitzen, wie ich sie in Erinnerung habe. Das ist schrägt, aber auch schön.“

Was geben wir weiter?

Bei den Foto-Shootings fließen immer wieder Tränen, erzählt Zailer. Sie betrachte sich selbst weder als Ahnenforscherin noch als Psychologin. Sie verstehe ihre Arbeit rein künstlerisch. Eine Ausbildung zur Foto-Therapeutin habe sie dennoch in Tel Aviv absolviert, um die Prozesse besser verstehen zu können. Sie sei fasziniert von Fragen wie „Was geben wir vor allem auch unbewusst weiter?“ oder „Wenn wir jemandem ähnlich sehen, treffen wir dann auch ähnliche Entscheidungen?“

Orly Zailer

Thomas Osl

Ein universelles Projekt

Mehr als 20 aufwendige Fotoshootings hat Orly Zailer in Tirol und Vorarlberg absolviert – unter anderem mit einem Porsche im Kühtai. Auf dem europäischen Festland werden ihre Arbeiten erstmals im Frühling 2019 zu sehen sein, in der Galerie Fokus in Innsbruck.

Teresa Andreae, tirol.ORF.at

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