Studie: Gewalt auch in Kinderdörfern

Gewalt und Missbrauch bei der Erziehung hat es nicht nur in der Geschichte der Heime, sondern auch in der der SOS-Kinderdörfer gegeben. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Historikers Horst Schreiber, der Vorkommnisse in Kinderdörfern von den 1950er bis zu den 1990er Jahren untersucht hat.

SOS-Kinderdorf hat die Studie in Auftrag gegeben, Pädagogik und Erziehungsmethoden sollten beleuchtet werden. Der Historiker Horst Schreiber betrieb daraufhin Aktenstudium und führte Interviews mit rund 30 ehemaligen Kinderdorf-Kindern. Fazit: Züchtigung und Prügel gehörten in der Nachkriegszeit in vielen Familien zum Erziehungsalltag, auch in manchen SOS-Kinderdörfern habe es diese Form der Erziehung gegeben.

„Schwerere Körperstrafen seltener als im Heim“

Die Gewalt gegen Kinder sei aber nicht so massiv gewesen wie in den Erziehungsheimen, so Schreiber: „Eine terroristische Gewalt, in der das Kind sich nicht wehren konnte und schwere Verletzungen davontrug, das ist im SOS-Kinderdorf die absolute Ausnahme. Aber schwerere Körperstrafen hat es auch im Kinderdorf gegeben.“ Es sei davon abgehangen, in welchem Dorf, in welcher Kinderdorf-Familie, bei welcher Kinderdorf-Mutter man war, so der Historiker.

Es gab physische und psychische Gewalt vergleichbar jener in Familien außerhalb des Kinderdorfs. Ende der 1970er Jahre gab es auch in Familien noch schwere Körperstrafen, so Schreiber.

Kinderdorf-Idee produzierte überforderte Mütter

Das Problem sei ein konzeptionelles gewesen – die Annahme, dass allein das Vorhandensein der Kinderdorf-Mutter, der eine „instinktive Mutterliebe“ unterstellt wurde, schon heilsam sei. Die fachliche Fundierung habe gefehlt. Stärkere Gewaltformen seien dann aus Überforderung der Kinderdorf-Mütter, für die es kein Unterstützungssystem gab, entstanden.

Ausgeübt worden sei die Gewalt dann – wie in den biologischen Familien auch – von den Vätern. Die Kinderdorf-Mütter waren untergeordnet, gab es Probleme, wurden die Kinder zum Dorfleiter geschickt, der dann die Züchtigungsstrafe vollzogen habe, berichtete Schreiber. „Der Hauptfehler war, dass man nur auf ein Mütter-, auf ein Familienkonzept gesetzt hat, ohne ein breites Unterstützungssystem zur Verfügung zu stellen. Die Häuser waren nicht luxuriös, es war schwere Arbeit, den Haushalt zu führen und es gab keine Zeit für Erziehung.“

Sexuelle Gewalt durch honorige Außenstehende

Horst Schreiber fand auch Belege für sexuelle Gewalt in zahlreichen Kinderdörfern, diese ging aber nicht von den Müttern aus. Sexuelle Gewalt gab es zum Beispiel unter Kindern, vor allem aber durch Außenstehende: Geistliche, Sprachtherapeuten und andere. „Das Problem war, dass das Kinderdorf etwas wie ein Sexualtabu hatte, es war eine klosterähnliche Gemeinschaft. So waren die Reflexion, eine Sprache dafür, und die Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt.“ Vielen Kinder wurde deshalb nicht geglaubt, besonders wenn es sich um honorige, angesehene Persönlichkeiten gehandelt hat wie einen Geistlichen.

Vertuschung bis in die Gegenwart

Im Falle sexueller Gewalt sei diese sehr lange von der Organisation vertuscht worden, so Schreiber weiter. „Es ist viel Aufwand betrieben worden, um die Marke ‚Kinderdorf‘ zu schützen, dass nichts Schlechtes nach außen dringt, anstatt den Kindern zu helfen.“ Das Negieren reiche bis in die heutige Zeit: Der jüngste Fall in Schreibers Bericht handelt von drei Mädchen, die von einem Außenstehenden sexuelle Gewalt erfahren haben, der Versuch, die Angelegenheit totzuschweigen reiche bis in die Jahre 2007 und 2010.

Aufarbeitung und Transparenz

Elisabeth Hauser vom SOS-Kinderdorf sagte, man wolle Aufarbeitung und Transparenz. Die meisten Übergriffe habe es in den 1960er und 1970er Jahren gegeben. 34 ehemalige Kinderdorf-Kinder hätten sich bisher wegen Gewalt gemeldet, es habe mehrere Clearingverfahren gegeben, in etwa der Hälfte der Fälle habe SOS-Kinderdorf früheren Opfern eine Entschädigung bezahlt.

Mittlerweile gebe es strikte Leitfäden, wie im Falle von Grenzüberschreitungen gehandelt werde und wer informiert werden muss - auf jeden Fall die Kinder- und Jugendhilfe, die Eltern des Kindes und die Mitarbeiter. Die Einhaltung der Leitfäden werde durch Audits auch stets kontrolliert, so Hauser. „Das Darüber-Reden, wenn Kindern Leid widerfährt, ist das Wichtigste. Das ist heute unsere Überzeugung.“

1949 gegründet

Am 25. April 1949 war der Startschuss für die Gründung von SOS-Kinderdorf gefallen. Im Dezember 1949 wurde dann das erste Haus im SOS-Kinderdorf Imst gebaut. Der Grundgedanke, Kindern ein liebevolles Zuhause zu geben, ist heute ebenso aktuell wie in der Nachkriegszeit - mehr dazu in 65 Jahre SOS-Kinderdorf.

Link: