St. Kümmernis: Die gekreuzigte Heilige mit Bart

Die Legende von der Heiligen Kümmernis erzählt, dass sie sich lieber einen Bart wachsen und sich kreuzigen ließ, als verheiratet zu werden. Eine Ausstellung in Meran beleuchtet die komplexe Figur zwischen Religion und Mythos.

Eine bärtige Frau erobert Europa? Das gibt es nicht erst seit dem Song-Contest-Sieg von Conchita Wurst. Lieber als zwangsverheiratet zu werden, wollte Wilgefortis, auch Kümmernis genannt, hässlich werden. Sie bat Gott eben darum - da wuchs ihr ein Bart. Zur Strafe für ihre Widerspenstigkeit wurde sie von ihrem Vater gekreuzigt, erzählt die Legende.

Im 15. Jahrhundert existierte eine intensive religiöse Frauenbewegung, vor allem in Flandern. Die Regensburger Historikerin Ulrike Wörner erklärt, dass diese in der gekreuzigten Märtyrerin ihre Kultfigur fand. „Das betrifft vor allem die Nonnen und die sogenannten Beginen, Angehörige christlicher Gemeinschaften, in Flandern, in der reichen Stadt Brügge. Dort versuchten die Frauen eine Frömmigkeit zu entwickeln, die sie unabhängig und selbständig macht. Dafür haben sie eine Identifikationsfigur gebraucht, und das konnte nicht Maria sein.“

Heilige Kümmernis am Kreuz mit Krone in Holz

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Die bärtige Frau am Kreuz wird oft mit Krone dargestellt

Der Frau am Kreuz trägt viele Namen: Wilgefortis, Ontkommer, Kümmernis oder Kummernus. Erstmals urkundlich erwähnt wird sie im holländischen Martyrologium aus dem Jahre 1476, als Heilige „Ontkommer“. Ihr widmet das Frauenmuseum Meran eine Sonderausstellung, deren Kuratorin Wörner ist. Unter dem Titel „Kümmernis - Eine wieder und neu entdeckte Kultfigur“ wird die Rezeption der legendenhaften Heiligen mit Bart beleuchtet.

Zwei Figuren sorgen für Verwirrung

Wilgefortis wollte hässlich sein um keinem Mann mehr zu gefallen. Der Bart war Zeichen ihres Widerstandes, wäre der Figur aber fast zum Verhängnis geworden. Die Kümmernis wurde nämlich möglicherweise mit dem Bild des Volto Santo im toskanischen Lucca verwechselt - einer in den Krönungsmantel gewandeten Christusfigur am Kreuz. Das Bild verbreitete sich in vielen Kirchen Europas, auch in der Dominikanerkirche in Bozen findet sich ein Fresko. Wilgefortis’ Existenz wurde angezweifelt.

Volto Santo Darstellung in Dominikanerkirche Bozen: Christus mit Krönungsmantel auf Fresco

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Auch in der Dominikanerkirche Bozen gibt es eine Volto-Santo-Darstellung

Eine andere Theorie besagt, dass das Volto Santo nach seiner Verbreitung in Mittel- und Nordeuropa einfach nicht mehr richtig gedeutet wurde: Der Christus im Krönungsmantel wurde als bärtige Frau interpretiert. Dem widerspricht Kuratorin Wörner ganz entschieden. „Es handelt sich um zwei autonome Figuren, die eben ineinander verschmolzen sind. Das kann man gut verstehen, wenn man sich in das mittelalterliche Denken hineinbegibt. Im Mittelalter war nicht wichtig, ob Figuren real waren oder fiktiv, sie mussten wirksam sein. Wenn die Figur wirkt, ist sie real.“

Wenn Frauen St. Kümmernis angebetet haben, wie es Votivbilder zeigen, ging es nicht immer um den frommen Kinderwunsch: „Wir wissen aus mehreren schriftlichen Quellen, dass es auch darum ging, die Kinderzahl zu reduzieren. Die Kümmernis spielt auch eine große Rolle beim Thema Gewalt gegen Frauen, sei es in der Familie oder in der Gesellschaft allgemein.“ In der katholischen Kirche gilt die Kümmernis allerdings offiziell nicht mehr als Heilige.

Projektionsfläche für Künstler bis zu Conchita

Kümmernis als Motiv einer österreichischen Briefmarke

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Die Frau am Kreuz provoziert. Der Bart irritiert. Wer traut sich da wie Jesus sein zu wollen? Wer rückt sogar Gott und dem Heiligen Geist ganz nah? Die Frau am Kreuz ist eine ideale Projektionsfläche. Ihrer bedienen sich sowohl voyeristische als auch politisch und sozial engagierte Künstler, wie die Ausstellung zeigt. Auch als Briefmarkenmotiv wurde die Kümmernis verwendet.

Die Historikerin Wörner findet es folgerichtig, dass die bärtige Frau am Kreuz von Aktivisten aufgegriffen wird: „Automatisch wird Sankt Kümmernis zur Leitfigur für alljene Kreise, die eben nicht nur um Toleranz kämpfen, sondern um die Freiheit jedes Einzelnen, seine Identität jenseits von Rassismus und Sexismus zu wählen.“ Die Songcontest-Siegerin Conchita Wurst ließ den Hype um die bärtige Frau neu aufleben. Damit hat es die Heilige Kümmernis quasi in die Gegenwart geschafft.

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